Kreuzberger Chronik
Februar 2025 - Ausgabe 266

Kreuzberger
Homayoun Bozorgmehr

Ich habe meinen Job zum Traum gemacht


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von Ina Winkler

Titelfoto: Holger Groß

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Homayoun Bozorgmehr ist noch jung. Doch manchmal erinnert auch er sich schon gern an vergangene Zeiten, die Jahre in Nordrhein-Westfalen oder die Sechzigerjahre mit den Hippies. Obwohl er die nur vom Hörensagen kennt. Eine seiner frühesten eigenen Erinnerungen ist die an eine riesige Halle und drei Menschen, die er noch nie vorher gesehen hatte, und die ihm jetzt gegenüberstanden: Seine Tante, ihr Mann - und sein Vater. »Ich bilde mir ein, dass ich in seine offenen Arme gelaufen bin«. Aber vielleicht ist das auch nur ein Bild aus einem Film, den er später sah und der sich mit der Wirklichkeit vermischt hat. Fragen kann er den Vater jetzt nicht mehr.

Auch die Kälte ist ihm in Erinnerung geblieben. Und die Dunkelheit. »Warum sind die Tage hier so kurz?« fragte er seinen Vater. Alles in diesem Land war ihm fremd. Die Hunde liefen an der Leine! »Bei uns streunten die Hunde immer frei herum.«

Sechs Jahre zuvor war sein Vater nach Deutschland gegangen. Das Leben in der Heimat war unerträglich geworden für den Schullehrer Mohssen Bozorgmehr. Er durfte nicht mehr unterrichten, selbst die Genehmigung für einen Hausbau wurde ihm untersagt. Als der Vater floh, war Homayoun, sein Jüngster, drei Jahre alt.

Jetzt stand der Kleine in der riesigen Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens, an der Hand der Mutter. »Ich durfte nach Deutschland kommen, weil ich noch in ihrem Pass stand. Mein Bruder und meine Schwester hatten schon eigene Pässe.« Sie mussten in Abadan zurückbleiben«, der Stadt am Persischen Golf, in der die Engländer ihre Raffinerien hatten und in der, wie der Vater erzählte, sogar die Beatles aufgetreten waren und Fußballlegenden wie Pele und Bobby Charlton.

Nach der Flucht arbeitete der Lehrer zunächst bei einem Teppichhändler in Hamburg, später als Mechaniker in Bochum und zuletzt in Witte bei Schuster Riedel. »Der Mann war eine Koryphäe, seit 40 Jahren in der Stadt! Jeder kannte Riedel, die Leute kamen von überall. Als er aufhörte, übernahm mein Vater das Geschäft.«


Und Homayoun musste auf die Wittener Grundschule. Doch er sprach noch kein Wort Deutsch. Weil seinen Klassenkameraden »Homayoun« zu kompliziert war, sagten sie »Homi« zu ihm. Seine Freunde sagen es heute noch. »Wir waren 17 Ausländer und 17 Deutsche, aber in allen Klassen war so eine bunte Mischung. Deshalb waren das für mich alles nur Deutsche.« Diskriminierung erfuhr er in Witte nicht. »Oder ich hab es nicht mitbekommen, weil ich noch kein Deutsch verstand.« Doch Homi entging nur wenig, auch wenn ihm die Sprache noch sehr fremd war. In seinem ersten Schulzeugnis heißt es:

»Lieber Homi, Du bist erst seit einem halben Jahr in unserer Klasse und kamst zu uns, ohne ein Wort unserer Sprache zu verstehen. Trotzdem warst Du sehr aufmerksam im Unterricht und hast den anderen Kindern einfach abgeschaut, was zu tun war. Ich habe oft darüber gestaunt, wie geduldig Du Dir alles erklären ließest und wie Du alles behalten hast. Es ist kaum zu glauben, dass Du nun schon Wörter und Sätze lesen kannst...« Frau Beine, die Lehrerin, war begeistert. Vier Jahre später im Abschlusszeugnis hatte Homi fast nur Zweier. Er war neugierig auf diese fremde Welt. Er wollte sie verstehen.

Deshalb lernte er. Auch bei seinem Vater. Eine der ersten Lektionen des Vaters lautete: »In diesem Land hat alles seine Ordnung.« Wenn auf einer deutschen Bank zwei Schalter geöffnet hatten, dann gab es davor auch nur zwei Warteschlangen. »Im Iran stehen vor drei Schaltern sechzehn Warteschlangen. Da ist immer Chaos«!« Der Sohn gewöhnte sich schnell an die neue Ordnung, auch wenn es nervte, ständig zu hören: »Mach die Tür zu! Dreh das Licht aus! Trag den Müll raus«.

Auch über seine Heimat lernte der Sohn vom Vater. Sie fuhren mit dem Zug zwei Stunden nach Bonn, nur um die große Persien-Ausstellung zu besuchen »mit Exponaten, die sie in Museen aus der ganzen Welt zusammengetragen hatten.« Homi ist beeindruckt von alten Kulturen, Inkas, Ägyptern, Persern, Griechen...

Archäologe wollte er trotzdem nicht werden. Schuhmacher auch nicht. »Wer will schon werden, was der Vater ist!« Ins Schulheft schrieb Homi: »Wenn ich groß bin, will ich Astronaut werden« und »eine Familie haben«. Und »Auto fahren«. Außerdem wäre Homi gerne »Lehrer«, »Fußballer« oder »Singer« geworden. Es gab da einen Rapper, 50 Cent, der sang: Get rich! »Das war unser Vorbild. Alle hörten den damals. Ich hätte alles dafür gegeben, so schwarz zu werden wie der. Ich war das Gegenteil von Michael Jackson!« Der wollte lieber weiß sein.

Als Homi sein Abschlusszeugnis in der Tasche hatte und alt genug war, um Astronaut oder Fußballweltmeister zu werden, konnte er sich nicht entscheiden und verbrachte viel Zeit mit Freunden auf der Straße. Er verliebte sich, trat als Rapper auf und tippte zu Hiphop-Beats Texte ins Handy, immer sechzehn Zeilen. Das ist Standard, sonst ist es kein Rap: Du hast nen Dolch im Garten meines Herzens gepflanzt, wie Efeu umschlingt er meinen Hals...

Die meisten Rapper, sagt er, texten über ihre Goldkettchen, »Das kann jeder! Gute Rapper geben was von sich preis, die erzählen von sich, von Liebeskummer oder Liebesglück…« Auch Homayoun erlebte Glück und Leid der ersten Liebe. Er könnte Hunderte solcher 16-Zeiler davon singen. Er schrieb nur ein paar. Einer von ihnen endete mit den Worten: Ich erkenne keinen Sinn/ deshalb heb ich ab/ um zu sehn wo ich bin... Als die Liebe vorüber war, floh er nach Berlin.

Und landete in einem Obdachlosenheim in Tegel. Als stellvertretender Heimleiter. Denn wie einst Frau Beine erkannte auch Rosi, die Heimleiterin, die Talente dieses jungen Mannes. Er sprach gut Englisch, war zu allen freundlich und besaß soziale Kompetenz. Fünf Jahre blieb Homi in Tegel und lernte viel über die Menschen. Er sagt, er brauche ihnen jetzt nur noch kurz in die Augen zu schauen und verstehe.

Homi füllte auch noch nach Feierabend Formulare für die Flüchtlinge aus, versuchte, Wohnungen für sie zu finden, Arbeit, Lösungen. Und scheiterte immer wieder an den deutschen Behörden. Er hatte eine Vierzimmerwohnung gefunden für eine Familie, die lebte mit 12 Kindern auf 32 Quadratmetern. »Aber das Amt lehnte ab, weil die Miete zwanzig Euro zu hoch war. Und zahlte stattdessen jeden Monat 12.000 Euro ans Heim. Wahnsinn!« Homayoun könnte schon wieder einen 16er darauf machen. Aber nicht nur die deutsche Bürokratie enttäuschte ihn, auch die Syrer, Afrikaner, Albaner... Einige belogen ihn, jammerten ihm die Ohren voll. »Und dann höre ich, dass sie zuhause komplette Häuser vermieten...«

Fünf Jahre im Heim waren genug. Es wurde Zeit für etwas anderes. Und dann kam auch der Vater nach Berlin, und der Sohn setzte sich zu ihm und lernte, wie man Leder leimt, Sohlen schneidet, näht, Schlüssel feilt. Und als er schon ein kleiner Meister war, übernahmen Vater und Sohn den Schlüsseldienst in der Marheinekehalle. Homayoun ist nicht Fußballweltmeister geworden, auch nicht auf den Mond geflogen. Aber er hat diese Arbeit mit den Händen und den Schuhen und den Schlüsseln lieben gelernt. Er sagt, er habe zwar nicht seinen Traum verwirklicht, »aber ich habe den Job zu meinem Traum gemacht!«

Doch jenseits des schwarzen Vorhanges, hinter dem er schleift oder Leder aufeinander presst, steht manchmal ein Ghettoblaster. Keiner sieht oder hört es, aber es könnte sein, dass Homi zu den Beats im Hinterzimmer die Lippen bewegt und, während die Maschinen surren, im Rhythmus von Jamben und Trochäen leise 16-Zeiler schmiedet - in Rhythmen fast so wie damals im Deutschunterricht. »Ehrlich, ich ärgere mich, dass ich nicht besser aufgepasst habe bei den Lyrikern – da waren gute Sachen dabei. Aber was interessierte mich damals dem Goethe sein Liebeskarussell. Wenn der heute Megaloh hören würde, wie der rapt, wie der dichtet, dieser Kapitän auf hoher See in einem Zeitungsboot, die Welt ist grau, aber ich schau durch mein Kaleidoskop! Das ist genial, das ist die Lyrik des 21. Jahrhunderts! Goethe würde vor Neid erblassen. Ich könnte ständig 16er schreiben, aber ich bin zu müde.

Wenn ich abends aus der Halle komme, könnte ich höchstens noch was über Schuhe machen.« Und Homi will etwas anderes erzählen. Die Geschichte von dem Mann, der seine Schuhe abholen wollte und plötzlich in Tränen ausbrach, »weil die Frau gestorben ist. Weil sich von einem auf den anderen Tag plötzlich alles verändert. Weil er ihr vierzig Jahre lang jeden Morgen eine Mettwurststulle geschmiert hat….« Auch für Homi hat sich kürzlich alles geändert. Mohssen ist gestorben, ganz plötzlich, vor der Halle zusammengebrochen. Sein Vater. Sein Lehrer. So viele Jahre!

Oder diese Geschichte von dem Typen, der ihn misstrauisch ansah und fragte: »Können Sie das kleben, ich meine: Hält das auch?« – Bei solchen Fragen könnte der Sohn des Schusters sofort lostexten: »Ich mein, behalt doch mal die Ruhe, ich kleb hier seit 10 Jahren Schuhe... – Ehrlich, es gibt ständig so ne misstrauischen Fragen. Das war früher in Witten anders. Auch in Charlottenburg wars noch anders...«

Manchmal, wenn sein großer Bruder vorne steht und zum Kunden sagt, er frage mal den Meister, und wenn dann Homi hinter dem Vorhang auftaucht, dann sagen sie: Was? Das ist der Meister? Sie sagen das nicht, sie denken es nur, aber Homayoun braucht sie nur kurz anzusehen und versteht. Fünf Jahre Tegel sind genug! »Die Leute glauben, ein Meister muss so etwa 100 Jahre alt sein! So ein junger Mann kann doch unmöglich Schuhe reparieren!« Das nervt. Homayoun könnte den nächsten 16er machen. Für die 16er braucht man Brass. Wut.

Den empfand manchmal auch sein Vater. Als er einmal einen Kunden fortschickte, fragte der Sohn: »Vater, warum warst du so unfreundlich? Das kannst du doch nicht machen...« – Mohssen antwortete: »Das wirst du schon noch lernen.« Der Vater behielt recht, Homi lernte es. Aber auch Frau Beine hatte Recht, als sie vor 25 Jahren in Homis Zeugnis schrieb, dass es »eine Freude« sei, zu sehen, »wie lieb und freundlich« er mit seinen Mitmenschen umgehe.

Kürzlich brachte eine ältere Frau ihre Schnürstiefel zur Reparatur. Homayoun leimte und nähte und packte obendrein noch zwei neue Schuhbändel in die Tüte, »weil die alten schon vollkommen durch waren.« Da zog die ihre Bankkarte aus der Jacke und wollte die Schuhsenkel bezahlen. »Mein Gott! Zu Hippiezeiten wäre die mir kurz um den Hals gefallen und gut wärs gewesen. Das muss eine schöne Zeit gewesen sein damals, die Sechziger. Heute kann man ja nicht einmal mehr was verschenken!« Er könnte schon wieder einen 16er texten. Eigentlich ist diese Markthalle voller 16er.





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