Kreuzberger Chronik
Februar 2025 - Ausgabe 266

Geschäfte

Was die Welt zusammenhält


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von Reiner Schweinfurth

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Ohne Schrauben wäre die Steinzeit noch nicht so lange vorbei. Ein paar hunderttausend Jahre lang wurden Waffen oder Werkzeuge noch mit Schäften zusammengesetzt. Die Neandertaler banden ein Stück Holz an eine Klinge und gingen damit auf Jagd. Erst in den Hochkulturen der Sumerer und Ägypter wurden Nägel, aber noch lange keine Schrauben eingesetzt. Niemand weiß, warum es so lange gedauert hat, bis die Schraube erfunden wurde.

Wer im GSG-Hof in der Gneisenaustraße 66 den Aufgang G gefunden und den Geheimcode an der Tür eingegeben hat und bis in den 3. Stock hinaufsteigt, steht plötzlich an einem Tisch mit Blumentopf, einer Waage und einem Aktenordner. Davor sitzt ein älterer Herr, den man sich gut als Advokaten vorstellen könnte, und der sich mit der Konzentration eines Chirurgen dem Inhalt einer kleinen Messingschale zuwendet. Hinter ihm erstreckt sich eine komplette Fabriketage voller Stahlregale, in denen keine Aktenordner, sondern kleine, graue, unscheinbare Kartons liegen. Unzählbare Mengen kleiner Kartons.

In der 3. Etage lagern »ungefähr 500 Millionen« Schrauben. So ganz genau hat Michael Knoblauch, der gerade aus den hinteren Räumen auftaucht, den Überblick auch nicht mehr. Die Pappschächtelchen tragen Ordnungsnummern, die Auskunft geben über Qualität und Material - Messing, Nickel, Stahl - , oder die oft alles entscheidende Besonderheit des Gewindes. Einige dieser Kartons bergen Raritäten, die es vielleicht nur in der Hopp´schen Schraubenhandlung gibt.

Walter Hoppe, der Geschäftsgründer, begann 1920 mit einem Bauchladen. »Der stolzierte mit Schlapphut und einer Rose im Knopfloch durch die Straßen und war bekannt wie ein bunter Hund.« Sein Lager war im Hinterhof der Riemannstraße neben einem Kuhstall, in dem in den Siebzigern noch Milch verkauft wurde.

1994 übernahm Knoblauch Hoppes Erbe. »Ich hab‘ alles gemacht, vom Fahrer über den Buchhalter bis zum Einkäufer und zum Chef«. Knoblauch zog mit seinen Schauben zuerst in die Blücherstraße ins Dachgeschoss und dann in die Gneisenaustraße in den 3. Stock. »Es war keine schlechte Entscheidung. Die Leute finden uns hier oben!«, sagt Knoblauch. »Wenn einer eine Schraube sucht und sie nicht findet, dann sagt der andere: Geh doch zu Hoppe!« Sogar 90-jährige Radfahrer scheuen die Treppen nicht, wenn es um eine bestimmte Schraube geht. »Sogar mein Lehrer stand hier schon vor der Tür, und Manfred Krug, der Schauspieler, der suchte ´ne kleine Blechschraube. Ich weiß noch, dass alle meine sieben Mitarbeiter, die ich damals hatte, nach vorne kamen und ein Autogramm wollten. Hat er auch gemacht. Und mit allen geplaudert und gelacht - der war in Ordnung!«

Von den sieben Mitarbeitern ist heute nur noch einer da: Herr Rutzki. Der Mann an der Wage. Herr Rutzki und Herr Knoblauch sagen »Sie« zueinander. Seit 40 Jahren. Ein bisschen Respekt muss sein! »Herr Rutzki ist ein Genie. Seine Expertise schlägt jeden Computer. Er hat mal eine Sendung von 300.000 Inbusschrauben von Hand nachgeprüft und 75 schadhafte Teile gefunden. Vier Monate hat das gedauert.« Es geht um die »Nullfehlertoleranz. Ein bisschen Schwund darf sein, »aber wirklich nur ganz wenig.«

Seit vierzig Jahren beugt sich Herr Rutzki tagtäglich über das Messingschälchen, wiegt, kontrolliert, sortiert aus, begutachtet, notiert, verpackt. Wenn jemand hereinkommt, schaut er kurz auf und sagt Guten Tag. Und widmet sich wieder seiner Arbeit. Langweilig ist ihm nie geworden. Im Gegenteil: Es sei spannend. Sehr spannend sogar. Denn die Schäden, die durch falsche Befestigungselemente entstehen können, sind groß. 2014 musste BMW fast 500.000 Autos zurückrufen, nur weil eine Schraube falsch war. Oder der Jumbo in Amsterdam, der ins Wohnviertel stürzte: »Das waren schadhafte Schrauben gewesen, das Triebwerk fiel ab!« Herr Rutzki beugt sich über sein Schälchen.

Herr Rutzki hat schon Schrauben ausgesucht, die flogen bis zum Mond. Deutsche Schrauben haben einen guten Ruf. Jetzt aber erobern chinesische Firmen den Markt, geblieben ist eigentlich nur noch Würth mit einem Jahresumsatz von 20 Milliarden Euro.

Und Hoppe! Es gibt Kunden, die halten Hoppe seit einem halben Jahrhundert die Treue. Fresenius zum Beispiel mit seinen medizinischen Messgeräten kauft seit 1970 bei Hoppe. Für die zählt die Zuverlässigkeit, nicht der Preis. »Die fragen auch nicht nach Rabatt.« Oder Holmberg aus der Ohlauer Straße. Holmberg stellt dynamische Schallwandler, Mikrofone, Hörsprechgarnituren her, die Kundschaft kommt aus der Luftfahrt, der Schifffahrt und dem öffentlichen Nahverkehr. Da muss jede Schraube sitzen. Sonst gibt es Katastrophen.

Knoblauch zahlt noch eine erträgliche Miete für seine 300 Quadratmeter. Doch 2027 könnte Schluss sein mit den Schrauben aus Kreuzberg. Dann läuft der Mietvertrag aus. Und die Mieten steigen. Von seinem Schraubenlager aus blickt Knoblauch auf drei Etagen leerstehender Gewerbeflächen der GSG im anderen Flügel. Man spekuliert. »Ein Jammer!«, sagt der Schraubenhändler.

Aber 2029 geht Knoblauch ohnehin in Rente. Fünf Enkelkinder warten auf ihren Opa. »Vielleicht verkaufe ich auch früher. Interessenten haben sich genug gemeldet«, sagt Knoblauch und lacht. Er hat sein Glück ja schon gemacht.


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