Kreuzberger Chronik
September 2024 - Ausgabe 262

Kreuzberger
Kalle Kalkowski

Diese alten Leute gehen mir auf die Nerven!


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von Hans Korfmann

Titelfoto: Boris Kalkowski

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Foto: Jim Rakete


Eigentlich ist Kalle Kalkowski Neuköllner. Hier ist er aufgewachsen, vor langem schon, hat die Lehrer geärgert und in der Fleischerei Jonas Stachelbeerwein geklaut. »Wir haben keine Jugendsünde ausgelassen.« Bis heute hält er seinem Viertel die Treue.

Als Kurt Krömer, der populärste Entertainer des Viertels, 2009 einen Song-Contest ins Leben rief und einen Preis für die schönste »Hymne auf Neukölln« auslobte, gewann Kalle Kalkowski, der Malermeister, der abends den weißen Leinenkittel gegen die schwarze Lederjacke tauscht und für Stürme des Beifalls im Heimathafen von Neukölln sorgt, wenn er singt: »Neukölln, nur Beton, mit Parolen übersprüht, Plakate dick wie Leder, 2000-mal überklebt... Neukölln, du alte Hure – Neukölln, du Niemandsland...«

Doch gleich nebenan lag Kreuzberg, und ohne Kreuzberg könnte er seine Geschichte nicht erzählen. Hier, in der Gneisenaustraße, wo heute die Junction Bar ist und damals Musik Wiebach war, kaufte er sich sein Schlagzeug. In der Köpenicker Straße, bei Leo, dem Gitarristen von Interzone, nahm er Songs auf. Er spielte in der Villa Kreuzberg und hing ständig im True Sound bei Kurt Dutz ab. Und hier in der Gneisenaustraße ist immer noch das Anno 64, in dem schon der Herr Lehmann von Sven Regener sein Bier getrunken hat.

Foto: Jim Rakete


Aber Neukölln wurde Kalle irgendwann zu laut. Er musste raus, dahin, wo die langen Stadtgeraden sich in kurvenreiche Landstraßen verwandeln und wo Apfelbäume und Gartenzwerge stehen. Vor fünfzehn Jahren hat er seine Heimat verlassen und ist an den Stadtrand gezogen. Mit allen sieben Sachen, allem, was sich so ansammelt, wenn man Sinn für Schönes hat, mit den Mühlenhaupt-Bildern, mit dem Straßenschild der Route 66 und dem Plakat vom Auftritt der Stones 1965 in der Waldbühne. Kalle war dabei gewesen, fünfzehn Jahre alt. Er war begeistert. Und er ist es heute noch. Diese alten, immer nur nörgelnden Leute gehen ihm auf die Nerven. »Es war geil!«

Kalkowski steht da im Blümchenhemd wie Elvis, in Jeans und langen, spitzen Schuhen, in seinem Häuschen am Stadtrand. Neben ihm am Dachpfeiler hängen vier Elektrogitarren. Vier von »vielleicht achtzig.« Eine seiner liebsten hat er abgeben müssen. Ein Freund, der das Geländer für die Treppe ins Dachgeschoss baute, wollte zum Dank seine Les Paul. Das Treppengeländer besteht aus fünf stählernen Notenlinien. Nur die Noten fehlen noch. Es sollen die Noten eines Liedes von Jimi Hendrix werden, das er selten auslässt, wenn er den alten Rock´n´Roll spielt. Diesen Sound, der ihn jung hält. Denn auf der kleinen Bühne in der Gneisenaustraße, wenn sie im verrauchten Lokal Hey Joe spielen, wenn die Gitarre das Klappern der Biergläser und das Klickern der Billardkugel übertönt und dieses ewige Gequatsche der Leute, dann spür´ ich die Knochen nicht mehr. Erst wenn der Wirt nach der vierten Zugabe wegen der zugezogenen Nachbarn den Stecker zieht und Kalle Kalkowski sich nach dem Kabel bücken muss, sagt er: »Oh, jetzt merk ich es aber doch, dass ich gerade 74 geworden bin.«

Angefangen hat das mit dem Schlagzeug und den Gitarren mit Detlef, dem Kumpel im Haus. Der hatte eine E-Gitarre, während Kalle noch mit Kleiderbügeln auf die Pappdeckel der Waschmitteltrommeln eindrosch. Irgendwann waren sie zu dritt, probten in der Aula, wo ein richtiges Schlagzeug stand. Sie nannten sich die Urchins, »Keene Ahnung, was das heißen sollte!« In der gleichen Schule probten die stadtbekannten Screaming Butlers. Als deren Schlagzeuger genug hatte, bot er Kalle seinen Platz in der Band an. Plus Schlagzeug. Für 1000 Mark. »Das war ne Menge Geld für ´nen Malerlehrling.«

Aber Kalle brauchte dringend ein Schlagzeug. »Mutti, bitte, bitte…« - Doch dann fehlten immer noch 900 Mark. Also ging Malerlehrling Kalkowski zum Malermeister Läkamp: »Herr Läkamp, könnten Sie mir 900 Mark leihen?« Läkamp nickte und wollte monatlich 95 Mark vom Lohn abziehen. »Aber er hat mir das meiste erlassen. Der mochte mich.« Und wenn die Maurer auf dem Bau wegen Kalles langer Haare meckerten, sagte er: »Der macht Musik! Der braucht det! Der muss so aussehen!«


Foto: Jim Rakete
Foto: Jim Rakete

















So wurde Kalle zum trommelnden Malermeister. Dann kam die erste Frau. »Die sagte: Entweder icke oder die Musik. Also sag ick: Na dann eben du!« Fünf Jahre, von 68-73, hielt Kalle keine Sticks, sondern nur noch Malerpinsel in der Hand. »Ich hab die halbe Flughafenstraße bemalt. Für so´n Farbenladen da in der Nähe. Damals hatte jeder Farbenladen noch seinen Maler. Der Chef sagte immer: Der sieht zwar vergammelt aus, aber der arbeitet ganz ordentlich.« Und dann, 1973, im Sound in der Genthiner Straße, stand da Rita. »Wahnsinn!« Er bot ihr Schokolade an. Sie lehnte ab: »Nö«. Er blieb trotzdem. Seitdem sind sie ein Paar, 51 Jahr! Wenige Tage später fragte einer: »Sag mal, hast Du nicht mal bei den Outs getrommelt? Die Bleibtreurevue sucht gerade nen Schlagzeuger…«

Der Zufall, oder das Schicksal, wollte es, dass im Zillemarkt, bei dem Trödler, gerade ein Schlagzeug im Schaufenster stand. Kalle tauschte gegen eine alte Jugendstillampe. Und dann ging es wieder los mit dem Schlagzeug und den Gitarren. Und Rita stand im Publikum. Jeden Abend, wenn er spielte.

Den Bass der Band zupfte Micki Westphal, mit dem Kalle immer Plakate kleben ging, für 60 Pfennig das Stück. »Wir klebten ganze Bauzäune voll, dafür bekamen die Poliere dann Freikarten. Wenn wir zwei Stunden später noch mal vorbeikamen, war alles schon wieder überklebt. Da waren schöne Sachen dabei, Michael Jackson zum Beispiel, hab ich noch ´nen ganzen Packen von...«

Kalle hat Tausende Plakate. Einmal kam ein Sammler extra aus Hamburg und blätterte durch. »Wieviel willste´n?« fragte er und deutete auf einen kleinen Stapel. Kalle maß die Höhe mit dem Zollstock. Heute hat der Hamburger eine Posterfirma. Alles Rock´n´Roll.

Rock´n´Roll gehört dazu zu Kalle Kalkowski. Mit allem Drum und Dran, mit Gitarren und Cowboystiefeln und Hawaiihemden und abmontierten Straßenschildern von der Route 66. Und einem Plattencover von Kalkowski. Da sieht er aus wie ein ganz Großer. Im weißen Rippchhemd mit Malermuskeln. »Sturm« hieß die Scheibe, gepresst 1990, fotografiert vom Rock´n´Roll-Fotografen Jim Rakete. Kalle erklärte Jim, wie er sich das Cover vorstellte: Eine halbnackte Frau auf dem Bett, dahinter, am Fenster, Kalle, der nachdenklich zu einem Motel auf der gegenüberliegenden Straßenseite blickt. Jim sagte: »Miami!« - Kalle: »Was?« - Jim: »So was geht nur in Miami. Ruf doch mal bei Ariola an!« Kalle rief an und der Typ von der Plattenfirma sagte: »Ihr habt wohl ´nen Vogel!« – Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon: »Kalle, Du fliegst dann nächste Woche mit Jim nach Miami.«

Das alles hatte nur geschehen können, weil Micki Westphal eines der Demobänder von Kalle heimlich weitergereicht hatte. Eines Morgens rief dann Ariola an und sagte, sie würden gern ´nen Vertrag mit Kalle machen. »Da hab ich erst mal ´nen Luftsprung gemacht.« Und als Kalle dann im Studio stand, kam ein Musiker-Kollege und staunte: »Kalle? Was machst denn Du hier?« – »Ick nehm ´ne Platte uff!« – Der wollte es gar nicht glauben. »Für die war ich doch immer nur der doofe Maler gewesen!«

»Hau ab!« hieß die erste Scheibe. Und Kalle war gut. Er war echt. Die krächzende Gitarre, die rauchige Stimme, klare Worte, die sich schnörkellos den kürzesten Weg von der Sängerseele zum Publikum bahnten. »Wenn ich mit der Gitarre auf der Bühne stehe und singe, kann ich über alles reden. Wenn ich vor ´nem Psychiater sitzen müsste, wüsste ich nicht, was ich da sagen sollte.«

Zehn Singles hat er gemacht und drei LPs, der »Neuköllner Hendrix«, wie Kurt Krömer mal sagte. Doch der große Erfolg blieb aus. Kalle ist das längst egal. Geld spielte sowieso nie eine Rolle. »Ick mach det ja nich der Kohle wegen. Ick mache det, weil ick et brauche.« Dann fügt er hinzu: »Ick kenn Leute, die haben 20 Gigs im Monat und verdienen 2000 Euro. Da mal ick doch lieber zwei Zimmer für 2000 Euro.«

Vielleicht ist er deshalb immer noch von jedem neuen Song, den er aufnimmt, begeistert, als würde er nun die Charts erobern. Noch genauso wie 2004, als er mit Michael Schirmer, diesem »Wahnsinnsgitarristen«, die Elektrische Männerwelt gründete, um nur noch Hendrix zu spielen. Es gibt niemanden, der Hendrix so gut ins Deutsche übersetzt wie Kalkowski, sagt Olaf Dähmlow vom Yorckschlösschen. Es klingt immer wie ein Original. Weil er nicht nachspielt. Er ist immer echt, immer Kalle Kalkowski. Immer original. Egal, ob er Stones oder Hendrix oder Kalkowski spielt. 100 Prozent Kalkowski.

Foto: Boris Kalkowski


Kalle steht im Dachzimmer mit den Erinnerungen an den Wänden. Fotos, Platten, Zeitungsausschnitte. Keine Ahnung, wie oft er auf der Bühne stand. »Aber ich freue mich auf jeden Gig, als wärs der erste!« Er freut sich auch auf Rita oder den Garten oder den Urlaub. Oder auf Boris, den Sohn, der hinter ihm am Schlagzeug sitzt, wenn der Vater auf der Bühne ganz vorne steht. Tagsüber gehen sie Wände malen, abends stehen sie auf der Bühne. Oder fahren im Sommer nach Memphis, um in Elvis´ altem Plattenstudio drei Songs aufzunehmen. Vater und Sohn. The show must go on.

Diese alten Leute, die mit einem Bein im Grab stehen, die nerven mich. Die ständig ankommen und fragen, Mensch Kalle, wat Du allet noch machst! Lohnt sich denn det? Macht det denn noch Spaß?« - Und wie das Spaß macht! Nicht nur der Rock´n´Roll. Das ganze Leben. »Manchmal steh ick morgens uff und freu mich. Und weeßte, worauf? Auf die nächste Hauswand! Da freu ick mich druff. Echt!« Dann muss er lachen.








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