Kreuzberger Chronik
September 2024 - Ausgabe 262

Helmut

Schwarze Fingernägel


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von Martin Blath

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Helmut war ein leidenschaftlicher Arbeiter, schwarze Fingernägel waren sein Statussymbol. Mit krawattentragenden Wichtigmännern - eine Formulierung, die seine höchste Verachtung zum Ausdruck brachte – wollte er nichts zu tun haben. Auch rotlackierte Fingernägel waren seine Sache nicht, obwohl er bei schönen Frauen ein Auge zudrücken konnte. Wenn seine Pianistenhände von oben bis unten durch Schelllack oder Motoröl, rostige Schrauben oder Kohlestaub geschwärzt waren, setzten sie ein mitleidvolles Gesicht auf und ließen es sich nur ungern nehmen, mit ihren roten Fingernägeln über Helmuts schwarze Haut zu fahren.

Helmut konnte mauern und schreinern, klempnern, kalfatern und Stromleitungen legen, und er war stolz darauf. Immer wieder lag er unter irgendwelchen Autos und beugte sich über Kühlerhauben. Er überlegte tagelang, wenn es ein Problem zu lösen gab, denn er war überzeugt, dass man durch Denken Zeit sparen konnte. Dass er für das Denken manchmal Wochen brauchte, spielte keine Rolle, denn es war stets von Rotwein begleitet und wurde deshalb der Freizeit zugerechnet. Mitunter mündeten seine mehr oder weniger genialen Ideen in so waghalsige Konstruktionen wie einen Kupplungszug aus einem Seil, das vom Fußpedal zum Lenkrad lief, wo er per Hand die Kupplung löste.

Seine letzte Klavierwerkstatt war eine kleine Remise im winzigen, stets feuchten zweiten Hinterhof am Kottbusser Damm Nummer 6. Er war gerne in seiner Werkstatt, besonders im Winter, wenn er den Kohleofen mit Holz fütterte, bis er glühte. Seine Wohnung im Seitenflügel war nie so warm wie die Werkstatt, und im Regal standen immer eine Flasche Wein und zwei Gläser. Wenn Besuch kam, putzte er das zweite Glas mit seinem einst karierten, aber längst schwarzen Hemdzipfel ab und schenkte ein.

»Ich muss Dir was zeigen!«, sagte er eines Tages und klappte einen Flügel auf. »Siehst du die Liste? Da, in der vierten Zeile, lies mal vor!« Es war unter Klavierbauern üblich, bei Reparaturarbeiten von Flügeln ihre Namen auf der Innenseite des Deckels zu hinterlassen. Auf diesem Deckel standen acht oder neun Namen, in Zeile 4 ein gewisser A. Schneider, 23. 5. 1962. »Das war mein Onkel. Bei dem habe ich gelernt. Der hat den Flügel auch schon mal gemacht. Und jetzt ist der bei mir, ein halbes Jahrhundert später. Ist das nicht toll, was sich das Leben so einfallen lässt!« - Helmut war gerührt.

Wenige Monate später wurde das Haus an einen Spekulanten verkauft. Helmut verlor nicht nur seine letzte Werkstatt, sondern auch die Wohnung, in der er dreißig Jahre gewohnt hatte – zuletzt für immerhin schon fast 200 Euro Miete monatlich. Das war im Jahr 2020.


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