September 2024 - Ausgabe 262
Geschäfte
Der Schneiderladen ![]() von Ina Winkler |
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![]() Manchmal kommen sie von noch weiter. »Aus London oder New York, das hab ich vergessen, jedenfalls der Hauptdarsteller aus Herr der Ringe. Seine Agentur hat ihn zu mir geschickt, in diese kleine Straße. Ich sollte ihm den Anzug passend machen.« Als der Schauspieler zur Anprobe kam, war er begeistert: »Thank you, thank you, thank you...« Herr Mamuk lacht. Herr Mamuk lacht sehr oft. »Und dann hat er nach einem Frisör gefragt und ich habe ihn zu dem Türken in die Gneisenaustraße geschickt. Der hat ihm nicht nur das Kinn rasiert, sondern auch die Haare aus Ohren und Nase entfernt. Der war begeistert.« Seine liebsten Kunden sind ihm trotzdem Nachbarn. Sie bringen ihm auf dem Weg zur Markthalle die Jeans zum Flicken, die kaputten Reißverschlüsse, die Lieblingsblusen, Decken, Gardinen, Polsterbezüge - alles, was Nadel und Faden braucht. Und dann erzählen sie von der kranken Mutter oder dem nächsten Theaterstück oder den Kindern. Weil sie ständig mit kleinen Reparaturen zu ihm kommen, hat er jetzt dick und fett »Änderungsschneiderei« an die Schaufensterscheibe geschrieben. Als wäre er einer dieser Flickschneider. Als »Cemi«, wie ihn die Nachbarn nennen, 1994 den Schneiderladen in der Riemannstraße eröffnete, waren Aufträge für maßgeschneiderte Anzüge keine Seltenheit. Obwohl schon sein erster Kunde, der türkische Hausmeister von gegenüber, ihn von zehn Mark auf acht Mark herunterhandelte für das Kürzen einer Hose. Aber es kamen auch zahlkräftigere Kunden, zum Beispiel Kurden, die sich ihre traditionellen Pumphosen schneidern ließen. Oder der alte Professor mit dem Gehstock, der das Bein nachzog. »Der lässt sich noch heute die Hosen von mir schneidern, das eine Bein etwas länger als das andere.« Zuerst sei er skeptisch gewesen, aber die Hose passte auf Anhieb. Oder der Schriftsteller, der um die Ecke wohnt und auf der Berlinale über den roten Teppich laufen musste und danach meinte, seine Hose sei die schickste gewesen von allen. »Schneidern ist eine Kunst!« sagt Cemal und lacht nicht, sondern zieht die Augenbrauen hoch. »Ich kann mit dem Auge maßnehmen und es passt wie angegossen.« Man glaubt ihm sofort, wenn man sieht, wie er die alten Industriemaschinen bedient, die vor dreißig Jahren mit ihm hier einzogen, die Singer, die Brother, die Kettelmaschine, die Ledermaschine. Wie er den Stoff befühlt, wie er das Maßband nimmt oder wie er unauffällig und nebenbei die Figur der Kundschaft studiert, mit der er plaudert und Tee trinkt. Diese Ladenwohnung ist mehr als nur eine Schneiderei. Cemals Seele hat hier eine Heimat gefunden. Nach langer und beschwerlicher Suche. 1979 floh Cemal, der Sohn eines kurdischen Schneiders, der eigentlich studierte und Lehrer werden wollte, vor den Verfolgungen durch die Türken nach Hannover. Als man ihn 1982 wieder ausweisen wollte, überquerte er in der Dunkelheit der Nacht zu Fuß die Grenze nach Frankreich. Der Freund seines Cousins suchte noch einen Schneider für sein Pariser Atelier. Cemal glaubte sein Glück gemacht zu haben, doch nach einem Unfall erfuhr er, dass er weder versichert noch angemeldet war. Enttäuscht kehrte er heim in die Türkei, wurde an der Grenze festgenommen und zum Militär eingezogen. Zwei Jahre später heiratete er die Frau seines Lebens und flog 1986 abermals mit Frau und Baby nach Deutschland. Am Flughafen in Ostberlin wurden sie bereits erwartet und zusammen mit 30 anderen Flüchtlingen zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht, wo man ihnen ein Ticket nach Westberlin in die Hand drückte und sie in die U-Bahn setzte. Am Lehrter Bahnhof stieg die Westberliner Polizei zu: »Ausweiskontrolle!« Einer jungen Kurdin, die sah, was geschah, ist es zu verdanken, dass die Mamuks heute noch hier sind. Sie brachte Cemals Frau und Tochter in einem Heim unter und besorgte für Cemal eine Wohnung, in der er sich verstecken konnte. Frau und Tochter sah der Flüchtling nur noch heimlich an den Wochenenden. Zwei Jahre lang. Bis Amnesty auf die Sache aufmerksam wurde. Eine Frau aus der Nachbarschaft verfasste für die Flüchtlingsorganisation den Lebenslauf des Schneidersohnes und sandte ihn an die Behörde. Cemal erhielt einen Termin. Doch vor dem Beamten erschien nur die junge Frau von Amnesty. »Wo ist denn der Herr Mamuk?«, fragte der Beamte über den Aktenberg hinweg. »Der ist unten. Er fürchtet, wieder festgenommen zu werden«. Aber der Beamte lächelte. »Seit Oktober 1990 bin ich legal!« Manchmal beim Nähen, wenn die Kunden beim Tee auf ihre Jacke warten, erzählt er davon. Wie er sich durchgeschlagen hat, und dass es ihm wie ein Wunder vorkommt, wie eine kleine Revolution, dass er nun einen eigenen Laden hat. Cemal ist jetzt 65 Jahre alt. Aber er schneidert immer noch. »Eine Rente wollte ich nie. Solange ich gesund bin, arbeite ich.« Seine Seele hat ja in dieser Werkstatt ihr Zuhause gefunden. Am 16. Oktober ist es 30 Jahre her, dass er die Hose des Hausmeisters kürzte. Für acht Mark. »Das werden wir feiern, mit den Nachbarn, draußen vorm Laden. Meine Frau wird etwas kochen, es gibt Wein und Bier, und alle können kommen. Hoffentlich regnet es nicht wieder...« |