Oktober 2024 - Ausgabe 263
Helmut
Der Kirschkern ![]() von A. Schmidt |
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Ganz am Anfang hatte Helmut Deutscher Meister im Turnen werden wollen. Immerhin wurde er einmal deutscher Jahrgangsmeister. Auch ein Leben als Lehrer an einem Gymnasium konnte er sich gut vorstellen, wobei seine Lieblingsfächer Sport und Deutsch gewesen wären. Nachdem er aber bei seinem Onkel, dem Klavierbauer, das Stimmen und Restaurieren von Flügeln und Klavieren gelernt hatte, verfolgte ihn eine ganze Weile der Traum vom Konzertpianistendasein. Auch dazu besaß er Talent und Gefühl genug, doch zerstritt er sich eines Tages furchtbar mit einem Klavierlehrer. Also begrub er auch den Traum vom Pianisten, der die Welt bereiste. Helmut hätte auch ein Autoschrauber, Tischler, Maurer, Bankräuber oder Kartenspieler sein können, doch niemals ein Zahnarzt. Vor Zahnärzten fürchtete er sich. Was ihm auch anzusehen war. Er hätte auch Schauspieler werden können. Es gab für ihn keinen größeren Spaß, als anderen Leuten etwas vorzuspielen. Wenn er in seiner Stammkneipe am Chamissoplatz genügend Publikum vorfand und gerade Lust dazu hatte, spielte er den Betrunkenen, fiel plötzlich mitten im Gespräch vom Barhocker, um nach einer eleganten Rolle rückwärts grinsend wieder aufzustehen und zu erzählen, dass er ja nicht umsonst deutscher Jahrgangsmeister im Turnen war. Ein anderes Mal kam er mit seiner Stammtischfreundin Ina, mit der ihn vor allem die Liebe zu Kurt Tucholsky verband, in den Heidelberger Krug und behauptete, sie hätten geheiratet. Alle glaubten dem Paar, das Gerücht hielt sich mehrere Tage. Auch im Conni Island, dem kleinen Café mit dem wunderbaren Kuchen und der charmantesten Bedienung ganz Berlins, konnte Helmut die Schauspielerei nicht lassen. Nachdem er amüsiert beobachtet hatte, wie Mr. Buddy, ein älterer Herr mit Kaiser-Wilhelm-Bart und einer der treuesten Kunden im Café in der Heimstraße, seine Bestellung mit den immer gleichen Worten aufgab: »Frau Tante Kaffeegeschäft, ich hätte gerne einen Kaffee mit viel Bohnen und wenig Wasser!«, zog Helmut nach und bestellte: »Einen Espresso, ein Glas Wasser und einen Schnaps – möglichst unauffällig bitte«. Eines Tages gönnte sich Helmut zum Herrengedeck ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Als Frau Kaffeegeschäft den Teller abräumen wollte, sah Helmut sie mit finsterer Miene an, deutete auf einen einsamen Kirschkern auf dem sonst krümellosen Teller und fügte hinzu, dass das Café nun wohl für die Rechnung des Zahnarztes aufkommen müsse. Erst das immer breiter werdende und fast zahnlose Grinsen erlöste die Cafébesitzerin von ihrem Schrecken. |