Oktober 2024 - Ausgabe 263
Geschichten, Geschichte, Gerüchte
Die alten Kreuzberger Volksfeste (1): Vom Mottenfest zu den Festlichen Tagen ![]() von Werner von Westhafen |
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![]() Noch 1985 konnte Ingrid Heinrich Jost schreiben: »Es riecht nach Bratwürsten, gebrannten Mandeln, Pferden, Heu und Benzin. Eine Glocke aus buntem Licht, aus Lärm und Gerüchen, liegt über der Budenstadt, die gestern, einer Fata Morgana gleich, aus dem Boden gewachsen ist und in ein paar Tagen wieder zurückkehrt ins Land der Träume. Es ist Volksfest.« Zum Jahrtausendwechsel gab es das auch noch auf dem Kreuzberg: die knatternden Benzinmotoren, die Kinder auf den Ponyrücken, die Würstchenbuden. Zum ersten Mal eröffnet wurde der Kreuzberger Jahrmarkt am 9. Juli 1949 durch Texas Willy, Kreuzbergs beliebtesten Bürgermeister. Es war der erste Festplatz nach dem Krieg. Seit 2001 gibt es ihn nicht mehr. Also zogen die Städter auf der Suche nach Karussels und Bierzelten weiter nach Osten bis zur Hasenheide. Doch auch die Maientage sind seit 2022 Vergangenheit. Das Fest ist aus. Begonnen hat die Geschichte der Volksfeste, als das von den feinen Gesellschaften und Feierlichkeiten ausgeschlossene einfache Volk im 18. Jahrhundert beschloss, eigene Feste zu veranstalten. Trugen die Feierlichkeiten am Hofe wohlklingende französische Namen, benannten die Handwerker ihre Feste gerne nach eher lästigen Tierchen: Die Schneider feierten im Sommer ein »Fliegenfest«, die Seidenweber das »Wurmfest«, die Kammmacher das »Läusefest« und die Tuchmacher ihr »Mottenfest« – zu Ehren jener unersättlichen Tierchen, die den Herrschaften und ihren Damen die Kleiderschränke leer fraßen, den Schneidern und Tuchmachern aber ihre Kundschaft sicherten. Auch sonst unterschieden sich die Feste der Aristokratie von denen des Volkes. Umkreisten in feinen Tanzsälen die gestiefelten Herren respektvoll die eingeschnürten Taillen ihrer Frauen, so hievten die Handwerksgesellen ihre Bräute gleich auf den Kutscherbock und ritten durch die Gassen aufs Land hinaus, Gott dankend, »dass er so viel Ungeziefer werden ließ.« Draußen »im Jrünen« bekränzten sie ihre Fräuleins, die mit ihnen »schäkerten und kosten und gar nicht spröde waren«, mit Kränzen aus Kornblumen. Ein hübsches Bild! Doch nicht nur die Handwerker, auch die Fischer feierten Volksfeste. Schon 1791 musste Polizei eingesetzt werden, um den Verkehr zu regeln, und in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts sollen während der Festwoche des Stralauer Fischzuges 50.000 Menschen die Rummelsburger Bucht überquert haben. Die Ingrid Heinrich Jost schrieb, dass es »im Wasser von Kähnen, Barken, Segelbooten und Ruderschiffen nur so wimmelte. Tausende schwimmen in jedem Augenblick hinüber und herüber, Gesang, Musik, Geschrei, Lachen, Witze, Neckereien beleben das Wasser.« Frei nach Goethe sang man: »Kennst du das Dorf, wo die Kartoffeln blühn / Berliner lagern uff de Wiesen jrien / dahin will ick mit dir, jeliebte Juste, ziehn«. Die Geburtenrate soll alljährlich neun Monate nach dem Fischfest nach oben geschnellt sein. Gaukler und Schausteller mit ihren Buden kamen hinzu, es gab ein »Affentheater« und ein »Hundetheater«, Schiffschaukeln und Würfelbuden, Herkulesse und Riesendamen. Auch auf der höchsten Erhebung der Tempelhofer Berge, auf dem Kreuzberg, wurde gesungen: »Komm auf die Schaukel, Luise! / Ick schaukel her dich und hin / und zeig dir danach uff de Wiese, Luise / wie jut ick dir bin«. Am lautesten war es unterm Denkmal im »Berliner Tivoli mit der sanften Rutschpartie«, die alles andere als sanft war. Angeregt durch die französischen Rutschbahnen, auf denen Muskelprotze die kleinen Wägelchen an Seilen die Hügel hinaufzogen, damit die kreischenden Damen den Berg hinuntersausen konnten, verlegten die Gebrüder Gericke 1829 ein Gleis vom Gipfel des Kreuzbergs bis zur Straße hinunter, wo es in eine waghalsige 180-Grad-Kehre mündete und wieder ein Stück den Berg hinauf führte. Der Schwung soll ge-reicht haben, um die Wagen den halben Hang wieder hinaufrollen zu lassen. Lediglich die letzten Meter mussten gelaufen werden. Während die französischen Vorläufer dieser Achterbahn wegen zu vieler Ohnmachtsfälle wieder geschlossen wurden, blieb die Rutschpartie auf der Kreuzberger Kreisbahn einige Jahre erhalten. 1912 erinnerte sich eine Zeitzeugin, wie es sich anfühlte: »Man stieg in einen kleinen Wagen und klammerte sich mit den Händen fest an die Ein-fassung des Vehikels, um beim Fahren nicht hinausgeschleudert zu werden – und dann ein Stoß und mit rasender Geschwindigkeit sauste man auf den Schienen in die Tiefe. Zwei und einen halben Groschen kostete das Vergnügen, das nicht ungefährlich war.« Auch auf der Anhöhe der Hasenheide kreischten die jungen Damen, wenn sie in ihren Wägelchen den Berg hinuntersausten: Auf dem Jahrmarkt in derNeuen Welt. ( Fortsetzung folgt ) ![]() |