Oktober 2024 - Ausgabe 263
Geschäfte
Albatross & Archipel ![]() von Michael Unfried |
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Zuerst gab es Brote, dicke, aus Wasser, Mehl und Salz im Ofen gebackene Laibe. In den Dörfern buken sie die Hausfrauen im Backofen vor dem Haus oder im Hof, in den Städten buk man in den ersten Bäckereien. Der saure Teig, aus dem das Brot gebacken wurde, musste schon am Tag vorher angesetzt werden, und während die meisten Städter noch im Tiefschlaf lagen, standen die Bäcker bereits in ihren Backstuben, kneteten und heizten den Ofen an. Später buken sie nicht nur große Brote, sondern auch kleine Brötchen. Die knusprigen, duftenden, goldgelben und noch warmen Brötchen entwickelten sich zu einem beliebten Frühstücksaccessoire, das beim Kaffee nicht fehlen durfte. Der schnoddrige Berliner nannte die kleenen Dinger etwas verächtlich »Schrippen.« Bis vor wenigen Jahren gab es in der Graefestraße in Kreuzberg noch die Bäckerei Kasper. Kaspers Wände waren tapeziert mit den verschiedenen Urkunden und Auszeichnungen des Meisters, es duftete und schmeckte. Alle, die zwischen Landwehrkanal und Südstern wohnten, liebten Kasper, auch wenn er stets schlechte Laune hatte, weil er jede Nacht in der Backstube sein musste. Arbeiter in Blaumännern saßen um 6 Uhr an den drei kleinen Tischen in der Ecke und tranken ihren Pott Kaffee, aßen belegte Schrippen im Angebot inklusive Getränk für 2,50 und lasen die Bildzeitung. Danach kamen die Schulkinder und holten sich Süßes für die Pause, nachmittags kauften Frauen Kuchen. Und obwohl alles hier wunderbar schmeckte, konnte es sich jeder im Kiez leisten. 2018 war damit Schluss. Kasper hatte lange genug schlechte Laune gehabt. »Det lohnt sich nicht mehr!«, sagte er und packte zusammen. Die Kreuzberger zwischen Urbanstraße und Südstern trauerten und suchten vergeblich nach einer neuen Bäckerei. Sie probierten die Luxusbrötchen von Beumer & Lutum, die Aufbackwaren türkischer Einwanderer und streiften sich in ihrer Verzweiflung Plastikhandschuhe über, um Brötchen aus den Gitterkästen der Supermärkte zu fischen. Aber nirgends schmeckte die Schrippe wie bei Kasper. Eines Tages ließ ein hübsches hölzernes Schild über dem Eingang der alten Bäckerei die Herzen der Kreuzberger höher schlagen. Nur ein Wort stand dort: Bäckerei. Doch wie enttäuscht waren sie, als sie eintraten. Zwar duftete es verführerisch nach Croissants und alles war sehr hübsch, eine richtige Bilderbuchbäckerei war das mit großen Broten in hölzernen Regalen, Zimtschnecken und Marmorkuchen. Selbst die leeren Brotkörbchen und das Personal sahen hübsch aus, alles war sympathisch unprofessionell und sah improvisiert und selbstgemacht aus, sogar die handgeschriebenen Preisschildchen. Nur die Preise passten nicht dazu. Das Kilo Brot beim neuen Bäcker kostet jetzt 6 oder 7 Euro. Die Zimtschnecke 3.20, das Schinkencroissant 4.90 und ein sogenannter Financier 3 Euro. Schrippen gibt es keine mehr, dafür wieder »Brötchen«! 80 Cent kostet ein »Brötchen ohne«, 90 Cent das »Brötchen mit« - also das mit etwa 20 Sesamkörnchen bestreute Brotlaibchen. Das ist ein hoher Preis für ein Brötchen, das kleiner ist als einst Kaspers Schrippe. Noch erstaunlicher ist, dass es kaum schmeckt. Die neuen Bäcker haben - entweder auf Empfehlung des Arztes oder des Finanzberaters - offensichtlich am Salz gespart. Da hilft es nichts, wenn die Weizen- und Roggenkörner in einer 133 Jahre alten Wassermühle im Spreewald geschrotet und gemahlen werden. Auch der Schwäbischen Seele, dem hübschen, mit Kümmel und Salz bestreuten Weizengebäck, das in der Markthalle am Marheinekeplatz stets ausverkauft ist, fehlt es in der Graefestraße am Wesentlichen: der Würze. Dafür kann man in der Bäckerei alle möglichen Flaschen mit Ölen und Getränken kaufen, Gläschen mit Oliven und Konserven, die wie Schokoladentafeln aussehen, bis man die Heringe und Sardinen auf der Verpackung erkennt. Es gibt Thai Chili Marmelade, Riesling Chutney und Riesling Senf - vermutlich, weil der Riesling die einzige deutsche Weinrebe ist, die man auch im Ausland kennt. Es gibt alles, was interessant und neu ist und sich hübsch verpacken lässt. Und dann gibt es noch das orangeleuchtende Baseballkäppi, das sogenannte »Albatross-Cap aus organic Cotton by Turtle DK« für 35 Euro. Auch auf dem hübschen Holzschild vor der Ladentür könnte auch »Albatross« stehen. So nämlich heißt die Bäckerei, die gar keine kleine Bäckerei für die Nachbarschaft ist, sondern hochpreisige Cafés und Restaurants in ganz Berlin mit Biobackwaren versorgt. Die Lieferung besorgt ein Unternehmen, das gleich nebenan in der Graefestraße 71 logiert und sich Archipel nennt. Albatross & Archipel. Wie hübsch! Archipel ist nach eigenen Worten »der Lieferservice für Hauptstadt-Spezialitäten« mit einem Online-Marktplatz für kulinarisch Anspruchsvolle, der auf Wunsch das Frühstück hübsch verpackt und ins Haus liefert. »Denn aus schöner Keramik schmecken die frischen Eier und ein frisch aufgebrühter Kaffee noch einmal doppelt so gut.« Vor der Bäckerei selbst ist Keramik kein Thema. Dort sitzen auf hübsch lackierten Brettern an der Hauswand die Kaffeetrinker mit Pappbechern statt Pott in der Hand. Die neue Kundschaft in der alten Bäckerei trägt keine Blaumänner oder Schultaschen mehr, sie trägt Laptoptaschen und Shorts zum gebügelten Hemd, stülpt Baseballcaps über die blonde Haarpracht und studiert »Economics«, um sich eines Tages vielleicht so hoch hinaufzuschwingen wie ein Albatros und wie im Flug einen ganzen Archipel zu erobern. ![]() Foto: Dieter Peters
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