Kreuzberger Chronik
November 2024 - Ausgabe 264

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die neue Schule für den Kiez


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von Edith Siepmann

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Der Bauzaun wird schon abgebaut, während noch gebohrt, gewalzt und Erde geschoben wird. Die zwei neuen Gebäude am Ende der Nostitzstraße kurz vor dem Friedhof ragen aus dem frisch gepflasterten Hof. Große Fensterrechtecke gliedern die vier Etagen, Betonreliefs in vier Farben erinnern an DDR-Ornamentik. Mitten im weitläufig gepflasterten Eingangsbereich recht ein Arbeiter ein quadratisches Beet, über die stille Szenerie fliegt ein Falke. Als die Sonne verschwindet, heben sich wie von Geisterhand gleichzeitig die Jalousien der Fenster.

Was viele nicht glauben konnten, als die Lenauschule 2021 mit einem Jahr Verspätung abgerissen wurde, wird in diesen Tagen wahr: Platz soll hier sein für bis zu 576 Kinder, jetzt ziehen erstmal 375 in ihre neue Schule um. Die vierjährige Zwischenlösung ist beendet, die Mittelstufen-Gasträume in der ehemaligen Lina-Morgenstern- und der Freiligrath-Schule sind wieder freigeräumt, die überbelegten Schulhöfe gehören wieder den Sekundarschülern – ein Aufatmen aller Beteiligten. Nur knapp zwei Jahre dauerte es, bis ein bayerisches Generalunternehmen den Modulbau samt doppelstöckiger Turnhalle fristgerecht hochgezogen und ausgestattet hat. Für die Außenanlagen ist der Senat verantwortlich, dennoch verzögerte sich der Umzug nur um vier Monate. Die allerdings brachten einiges an organisatorischem Durcheinander. So musste neben dem Unterricht ein- und wieder ausgepackt werden, erst in den Herbstferien wurde umgezogen.

Doch als die Pädagogen dann zum ersten Mal ins Gebäude durften, überwog das Staunen. „Was für eine Ausstattung!“ Endlich wieder Musik- und Kunstraum, Lehrküche und Werkstatt, ein großer Bibliotheksraum für die Lesewelt, Räume für Ergotherapie und Inklusion, Elternarbeit und Teamtreffen. Die bunten Foren mit variablen Möbeln und Spielecken, Beamer und Leinwand, endlich geruchsneutrale Toiletten und eine große Turnhalle – so viele Möglichkeiten! Der Grundschulleiter Michael Koch ist angetan von der hochwertigen Einrichtung, die Lehrerinnen und Erzieher versuchen, sich den neuen Schulalltag vorzustellen. Denn die neuen Räume verlangen ein neues pädagogisches Konzept.

Die Grundstufe der Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule ist jetzt eine „Berliner Lern- und Teamhausschule“ mit „Compartments“ anstelle der alten „Flurschule“: Auf jeder Etage werden je eine 1. - 6. Klasse ein sogenanntes „Lernhaus“ bilden. Pädagoginnen und Pädagogen können dort relativ selbstständig arbeiten und eigene Schwerpunkte setzen, so wie früher in den Dorfschulen. Die Kinder haben ihre Stammklasse, können sich aber in einer neuen Zeitstruktur bis zum Nachmittag verschiedenen Projekten zuordnen, je nach Interessen und Bedürfnissen. Individuelle Förderung findet in kleinen Teilungsräumen statt, die großen Foren in der Mitte sollen Ruhe-, Arbeits- und Bewegungsphasen ermöglichen.

„Die Ganztagsschule wird zum anregenden Lern- und Lebensort. Veränderte globale Bedingungen brauchen eine zeitgemäße Pädagogik für eine heterogene Schülerschaft und für mehr Bildungsgerechtigkeit.“ So steht es im Konzept des Senats. Die Idee kam vom Leiter der Gruppe, dem einstigen Münchner Stadtschulrat Schweppe. Sie stieß auf offene Ohren und Herzen bei Peter Heckel und Frank Müllers vom Landes- und Bezirkselternausschuss. Die drei konnten gemeinsam mit Pädagogik-Professor Ramseger die Schulsenatorin davon überzeugen, dieses Konzept auch den geplanten Schulen der „Berliner Schulbau-Offensive“ zugrunde zu legen. Darauf ist Frank Müllers, der seit der Einschulung seiner Tochter vor 12 Jahren in der Lenauschule unermüdlich für die im Schulgesetz festgelegte Partizipation der Eltern kämpft, schon etwas stolz. „Die Lenauschule war in den frühen 80ern die erste Ganztagsschule und super nachgefragt, bis sich nach der Schließung der Roseggerschule der Ruf als Brennpunktschule festsetzte. Jetzt öffnet die neue „Compartmentschule“ am gleichen Ort als pädagogisches Vorzeigeprojekt. Wenn das mal keine Chance für die neue Kiez-Gemeinschaftsschule ist!“

Tatsächlich finden sich schon vor der Eröffnung Eltern am Schul-eingang ein und würden gerne mal hineinsehen. „Nicht möglich! Versicherungsgründe!“ muss der Hausmeister abweisen. Im Oktober ist die Zeit der Erstklässler-Anmeldung und viele tun sich schwer mit der Wahl der Schule. „Wir sind ja im Einzugsgebiet der Reinhardswald-Schule“ - bislang die begehrteste Einrichtung im Kiez - „aber jetzt überlegen wir, ob wir unseren Sohn nicht lieber hier anmelden. Wir finden das pädagogische Modell so gut“, erklärt die Mutter und fragt, ob das Lehrpersonal auch hinter dem neuen Konzept stehen würde. „Aber irgendwie sieht es aus wie eine Akademie, steril und groß. Ich kann mir unser Kind gar nicht hier vorstellen.“, meint der Vater. „Das wird sich verändern, wenn die Kinder hier sind und Leben einzieht. Innen ist die Schule sehr kindgerecht ausgestattet“, beruhigt eine Lehrerin, die gerade von ihrer ersten Besichtigung aus dem Eingang kommt.

Zudem hängt über der Reinhardswald-Schule das Damokles-schwert eines Abrisses wegen Asbest und mangelnder Instandhaltung wie zuvor auch bei der Lenauschule. Die Zukunft der Reinhardswald-Schule ist laut Bezirksamt noch völlig ungeklärt. Fest steht, dass saniert oder abgerissen werden muss, nur der Zeitpunkt ist noch unklar. Ob die Grundschule danach abgewickelt wird und eine Sekundarschule auf dem Grundstück an der Gneisenaustraße entsteht, ist noch nicht entschieden. Denn laut Statistik sollen im Kiez die Grundschulkinderzahlen sinken, während die der Mittelstufen-Jugendlichen steigen. Zudem haben steigende Baukosten die Kalkulation für Neubauten und Schulsanierungen explodieren lassen. Die ursprünglich eingeplanten 1,7 Mrd. Euro für die Schulbauoffensive wuchsen auf 5 Mrd. an. Jetzt – nach der Vergabe der Schulneubauten an die Howoge als Bauträger, die umstritten ist, da die Bezirke ihre neuen Schulen dann für 20 Jahre von der Howoge mieten müssen – ist sogar eine Gesamtsumme von 11,7 Mrd. Euro im Gespräch.

Der Bergmannkiez kann froh sein, dass sein 70 Mio. Euro-Schulbau einer der ersten ist, die realisiert wurden. Denn Berlins Bausenator Gaebler ist der Meinung, die neuen Schulbauten seien zu teuer. Er empfindet die 7,4 qm pädagogischen Raum pro Schüler als zu großzügig. Auch das edle Kunstwerk, eine Wilde Möhre aus recyceltem Blattgold, die im Treppenhaus die Stockwerke entlang nach oben wächst, gäbe es dann wohl nicht mehr - auch wenn sie gar nicht so teuer war wie sie aussieht. Als Wildpflanze symbolisiert sie zusammen mit dem noch möhrenlosen Beet vor der Schule den Urgrund allen Lebens und auch den drohenden Verlust an Artenvielfalt.

Shakespeare ließ Hamlet vor 420 Jahren sprechen: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt.“ Kann es Kindern ermöglicht werden, diese Dinge auch in der Schule zu entdecken, wo sie einen Großteil ihres Tages verbringen? Mit genug pädagogischem und beruflichem Personal als didaktischen Unterstützern? Es gibt heiße Befürworter und zögernde Skeptiker im Kollegium. Werden die neuen Räume die neuen pädagogischen Ideen zum Leben bringen? „Das geht meiner Meinung nach nur mit mehr Personal“, meint eine Erzieherin. „Aber lassen wir uns überraschen!“

Die Wände sind teils gläsern. Das gefällt nicht allen. Konzentrationsschwache Kinder würden zu leicht abgelenkt. „Wer erzieht die Erzieher?“, fragte Marx vor 140 Jahren. Wird es „der Raum als dritter Pädagoge“ sein? Wird die neue Schule zum Lebensort werden, in dem Kinder, Eltern und Pädagoginnen sich wohlfühlen? Ein Freiraum zum Erkennen und Entwickeln der eigenen Interessen und Talente für eine gute Zukunft für alle, egal welcher Herkunft?

Die Pädagogik-Vision wirkt im bisher leblosen Gebäude ohne Kinder und Lehrpersonal noch sehr abstrakt, aber es gibt Kontinuitäten in der Schultradition, die den Neuanfang mit etwas Kraft erfüllen können: die ganzheitliche Rhythmisierung des Schultages durch den „integrierten Tagesplan“ in die Teamarbeit der Pädagoginnen war ein Modellprojekt der ehemaligen Lenauschule. Auch das gute alte Leseschiff, gefüllt mit Träumen und Geschichten von Kindern aus achtunddreißig Jahren und Symbol der Lesekultur der Schule, segelte trotz Gegenwind mit viel Eltern-Kinder-Einsatz aus der Gneisenaustraße zurück in die Nostitzstraße. In der neuen Bibliothek im dritten Stock ist es nun dauerhaft vor Anker gegangen.

Und es flattern auch schon wieder einige der berühmten Lenau-Spatzen über den zu stark versiegelten neuen Schulhof. Sogar ein paar Halme hängen aus den Ersatznestern im künstlichen Spatzenhaus: Hier schlüpften wieder Spatzenküken. Und jetzt kommen die Kinder zurück und lösen den Baulärm ab. „Zum Glück, wird aber auch Zeit!“, ruft eine Nachbarin aus einer angrenzenden Hinterhofwohnung. Die im Schulkonzept gewünschte Vernetzung mit dem Kiez kann beginnen.



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