November 2024 - Ausgabe 264
Frisch von der Leinwand
Die Fotografin ![]() von Anna Prinzinger |
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Es ist kalt. Ich bin halb tiefgefroren, mitten im goldenen Oktober, als ich das Foyer des Kinos betrete. Drinnen ist kaum noch Platz zum Stehen. Ich war nicht die einzige, die keine Lust hatte, in der dunklen Kälte vor dem Kino zu warten, bis der Film losgeht. Endlich im Warmen verschlägt es mich auf Reihe 7 Platz 16. Das Licht von dem Handyscreen des Typen zwei Plätze weiter nervt. Er starrt die ganze Zeit in sein Handy. Das kann er auch zuhause machen. Bei den Werbespots versteh ich das ja noch, aber wenn die Trailer der kommenden Filme laufen, dann verstehe ich das nicht mehr. Ich schaue mir die immer ziemlich genau an, denn ich will wissen, welchen Film ich mir im nächsten Monat ansehen könnte. Einen Abend im Monat Kino, die restlichen Abende in der Kneipe oder bei Freunden. Das ist doch ein einigermaßen gesundes Verhältnis zwischen Fiction und Wirklichkeit. Der Typ packt sein Handy weg. Der Film beginnt. Ich habe gelesen, dass dem Film ein Buch zugrunde liegt, das der Sohn der Fotografin Lee Miller nach deren Tod geschrieben hat. Es trägt den Titel »Immer lieber woanders hin«. Lee Miller, so heißt es, habe es nie lange an einem Ort aus gehalten. Sie sei eine »Herumtreiberin« gewesen. Der Sohn entdeckte nach dem Tod der Mutter auf dem Dachboden einen Koffer voller Fotografien, von deren Existenz er keine Ahnung gehabt hatte. Als er die Bilder sieht, wird ihm klar, wer seine Mutter war. Und was für eine gute Fotografin sie war. Der Film erzählt ihre Geschichte. Er begleitet sie auf dem Weg nach London, wo sie bei der Britischen Ausgabe der Vogue zu arbeiten beginnt, sowohl als Model als auch als Fotografin. Unruhig, wie sie ist, beschließt sie 1944 nach einer Reise durch Ägypten mit ihrem Kollegen David Sherman an die Kriegsfront zu fahren. Lee Miller zeigte die Opfer des Krieges, Zerstörung und Leid, das Leben der Soldaten in den Kasernen. Sie fotografierte auch die Leichenberge in den Konzentrationslagern nach dem Krieg, die Ausgehungerten. Sie fotografierte schonungslos. Nach einem Besuch in Auschwitz besichtigte sie am 30. April 1945 Hitlers Privatwohnsitz in München, der gerade von den amerikanischen Soldaten besetzt worden war. Der Kollege David Sherman fotografierte das wohl berühmteste Foto der Fotografin Lee Miller: Es zeigt sie selbst, sitzend in Hitlers Badewanne. Als sie erfährt, dass die Vogue ihre Fotos nicht druckt, ist sie enttäuscht. Ein paar von ihnen werden in der amerikanischen Ausgabe veröffentlicht, aber die meisten landen auf dem Dachboden. Am Ende steht ihr Sohn vor all den Fotografien seiner Mutter in ihrem Haus und fragt sich, warum sie ihm das alles nie erzählt hat. |