Juli 2024 - Ausgabe 261
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Kreuzberger
Mariem Aga ![]()
von Ina Winkler
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Ein schwarzhaariges Mädchen kommt den Weg heruntergesprungen. Es freut sich, denn es müsste jetzt eigentlich in der Schule sitzen. Aber dann kamen plötzlich glücklicherweise diese Bauchschmerzen, und tatsächlich schickte die Lehrerin das Mädchen zurück nachhause. Jetzt verlangsamt es das Tempo, schleicht von hinten an die Frau heran, die vor dem Café auf der Straße sitzt und ihren Cappuccino trinkt, zögert noch einen Moment und legt dann vorsichtig von hinten die Arme um ihre Mutter und den Kopf auf deren Schulter. Aliza ist glücklich. Auch die Mutter lächelt. Sie weiß, dass ihre Tochter lieber malt und singt und lieber bei ihr ist als bei der Lehrerin. Lieber bei der Familie als in der Schule. »Familie, das ist in Indien etwas ganz Wichtiges.« Nicht nur für Kinder. Die Mutter ging gerne in die Schule. Obwohl sie etwas schüchtern war, vorsichtiger, leiser als die anderen. Mariem Aga trinkt ihren Cappuccino und blinzelt in die Sonne, vor ihr liegt der Kreuzberg mit seinen alten Bäumen und neben ihr das Morgenland, dieser Laden, in dem der halbe Orient versammelt zu sein scheint. Diese romantische Märchenwelt aus bestickten Kissen und Decken, Messinggefäßen, Lampen und Lampions, Möbeln aus Tropenhölzern, bunten Gewändern und Silberschmuck und Räucherstäbchen. Ein indisches Souvenirgeschäft, allerdings im Herzen Kreuzbergs. Eine Dreiviertelstunde hat Mariem Aga vor diesem Laden einmal auf Mudu warten müssen. »Ich bin gleich wieder da!«, hatte ihr Mann gesagt, aber dann so lange mit Mustafa, dem Ladenbesitzer, über das Leben und die Liebe und weiß Gott was philosophiert, bis Mariem ihn auf dem Handy anrief und fragte, ob er eigentlich noch da sei. Beim nächsten Mal ist sie vorsichtshalber gleich mit hineingegangen, und da stand sie dann in dieser Landschaft aus 1001 Nacht und murmelte vor sich hin: »So einen Laden möchte ich auch einmal haben!« Das ist nun einige Jahre her. Gleich wird sie mit Aliza hinüber gehen und diesen Laden aufschließen. Aliza wird sich mit ihren Stiften und ein paar Blättern Papier zwischen die bunten Polster werfen und glücklich sein, an diesem sonnigen Tag nicht in der Schule sitzen zu müssen, sondern mit ihren Eltern im Morgenland zu sein. Diesem immer noch irgendwie geheimnisvollen und fernen Land, aus dem die ganze große Verwandtschaft kommt, in dem sich ihr Vater und auch ihre Mutter irgendwie noch immer beheimatet fühlen. Dabei ist Mariem Aga eine echte Berlinerin. Sie ist in Spandau geboren und machte in Tegel auf dem Humboldt-Gymnasium ihr Abitur. Hier waren ihre Schulfreundinnen, sie wohnten in der gleichen Straße, Heike und Helen, »beide blond und blauäugig«. Das genaue Gegenteil von Mariem. Daran erinnert sie sich genau. Sie lacht. Was später, nach der Schule, aus den beiden geworden ist, weiß sie nicht. Sie hat den Weg ihrer Schulkameradinnen noch einige Jahre verfolgt, auf Facebook und mit dem Handy, aber irgendwann verloren sich die Spuren. »Und jetzt, nach zwanzig Jahren, anzurufen und zu sagen: Na, wie war´s denn so in der Zwischenzeit? – das finde ich irgendwie doof.« Mariem Aga ist keine Frau, die glaubt, alles richtig zu machen. Sie ist nachdenklich, vorsichtig. Sie wägt ab, zögert, fragt nach. Bei jedem Satz, den sie sagt. »Ich war immer irgendwie schüchtern«, sagt sie, und »Ich weiß nicht genau, warum. Schon damals, als ich in die Schule kam...« Vielleicht, weil die meisten, die neben ihr saßen, alle aus ganz normalen Familien kamen, so ein ganz normales Zuhause hatten. Ihres war immer anders gewesen. ![]() Foto: Privat
Der Vater war ein leidenschaftlicher Geschäftsmann. Ehrgeizig. Fleißig. Sparsam. Stolz. »Zurecht!«, sagt Mariem. Er hatte es zu etwas gebracht in Deutschland, sich hochgearbeitet, nachdem er 1972 noch als junger Mann Indien verlassen hatte und als Gastarbeiter zum deutschen Wirtschaftswunder beitrug, zuerst bei der AEG und dann bei BMW. »Da hat er sehr gut verdient damals. Trotzdem ging er nebenbei noch Toilettenputzen. Stillsitzen war nichts für ihn.« Kasim Ali Mir war ein geschäftstüchtiger Mensch. Für Sonja, die Floristin, eröffnete er noch einen kleinen Blumenladen. Sonja, Mariems Mutter. Alles schien nach Plan zu laufen für den fleißigen Einwanderer aus Indien. Nach Jahren harter Arbeit hatte er genug zusammengespart, um den Fabrikationshallen deutscher Waschmaschinenhersteller und Automobilkonzerne den Rücken zu kehren, sich selbständig zu machen und im Modecenter Berlin, im Hof des Ullsteinhauses, ein eigenes Geschäft zu eröffnen: Titu-Moden. Neben dem Konfektionswarengeschäft besaß er inzwischen ein Haus in Spandau und hatte Frau und Kinder. Er hatte sein Glück gemacht, und es war Zeit, seine Mutter nach Deutschland einzuladen. Stolz zeigte er ihr das Brandenburger Tor und den Ku´damm. Für die kleine Mariem muss der Besuch der Großmutter wie ein Besuch aus einer anderen Welt gewesen sein. »Ich weiß gar nicht mehr, wie lange sie blieb, drei Wochen oder drei Monate?« Manchmal verschwimmen die Erinnerungen. Sie weiß nicht genau, warum. Andere erinnern sich deutlicher. Der große Bruder zum Beispiel. Mariem ist die mittlere der drei Geschwister. Sie war gerade in die Schule gekommen, als ihre Mutter sie plötzlich verließ. »Sie war eines Tages einfach weg. Und dann, als es um das Sorgerecht ging, standen meine Geschwister und ich vor Gericht und sollten aussagen. Über unsere Eltern. Das war absurd.« Am Ende blieben sie beim Vater, die Mutter sahen sie nur zu festgelegten Tagen. Und den Vater nur noch am Abend. Oder sogar nur am Wochenende? Mariem Aga hat von den ersten beiden Jahren nach der Trennung kein deutliches Bild mehr. »Es ist ja auch alles schon so lange her.« Nur eines weiß sie genau: »Papa fand ich toll. Er hat sich immer für uns interessiert. Und er sorgt sich um uns. Bis heute.« Der Vater hatte geglaubt, es alleine zu schaffen: Die Kinder großziehen, arbeiten, das Haus fertig bauen. Aber dann wurde ihm klar, dass seine Kinder eine Mutter brauchten. Kasim Ali Mir, inzwischen 40 Jahre alt, reiste nach Bangalore, in seine Heimatstadt, und gab eine Annonce auf: Suche für zwei Töchter und einen Sohn eine Mutter. Die neue Mutter war das Gegenteil der alten Mutter: Sie hieß Mohseena, war schwarzhaarig und 24 Jahre alt. Mariem ondulierte ihr die Haare und sah mit ihr und der kleinen Schwester die märchenhaften Liebesfilme aus Bollywood. Die Geburtstage feierten sie im Indian Unity Center, dem Kulturzentrum, das der ruhelose Vater für die heimatlosen Inder in Steglitz gegründet hatte. An den Feiertagen spielten sie Musik und tanzten, es wurde gegessen und getrunken. Für die Kinder veranstaltete man Wettbewerbe, darunter das »Landkartenzeichnen. Wer aus dem Kopf die schönste Indienkarte zeichnete, bekam den ersten Preis!«, erinnert sich Mariem und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich bin sehr gerne in indischer Gesellschaft.« Mehr sagt sie nicht. Mariem ist höflich. Sie redet nicht schlecht über andere Leute oder andere Gesellschaften. Später - an ganz anderer Stelle, damit auch niemand auf die Idee kommt, sie könne einen Vergleich anstellen – sagt sie: »Wir Inder haben einen ausgeprägten Sinn für Familie und für unsere Gemeinschaft.« ![]() Foto: Privat
Mohseena war eine gute Mutter. Sie hatte Verständnis für die Kinder und spürte, wenn sie Sorgen hatten. Sie spürte auch, dass sich Mariem veränderte und dass es etwas gab, das sie aufwühlte und fortzog. Mariem war sechzehn Jahre alt, sie dachte nicht mehr ans Abitur, sie dachte an ganz anderes und saß stundenlang vor den Fotografien aus der Heimat ihres Vaters, betrachtete ihre große Verwandtschaft, die Bilder von großen Festen im Freien. Auf einer dieser Fotografien war zwischen den vielen Leuten ein junger Mann. Den hatte sie schon einmal gesehen, auf einer älteren Fotografie, zwei Köpfe kleiner damals noch und ein Kind. Jetzt war er ein Mann. Wenn sie ihn ansah, vermischten sich die Bilder der Bollywoodfilme mit der Wirklichkeit. Der junge Mann und diese andere Welt gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie war nur ein einziges Mal in Indien gewesen, als kleines Mädchen noch, und »es war anstrengend gewesen, überall die vielen fremden Menschen, die mich in die Backen gekniffen haben und liebkosten und bestaunten. Ich verstand kein einziges Wort. Und als mir dann der Doktor die Löcher für die Ohrringe stach, saß eine riesige Menschentraube um mich herum und sah zu.« Die zweite Reise nach Indien, Jahre später, hinterließ andere Eindrücke. Da stand sie plötzlich dem Märchenprinzen von der Fotografie leibhaftig gegenüber. Mit weichen Knien und mit schlagendem Herzen. Er führte sie aus, lud sie ein, sechs unvergessliche Wochen in Indien vergingen viel zu schnell. Zurück in Berlin folgten Briefe, Emails, Telefonate, kleine Päckchen mit Aufmerksamkeiten, erste vorsichtige, zögerliche, zurückhaltende Worte. Und irgendwann ein erstes: I love you! Er schrieb zurück: »I love you too!« – Aber sie war sich nicht sicher, was er damit meinte. Er liebte ja sowieso »die ganze Welt!« - Fast zwei Jahre dauerte die heimliche Brieffreundschaft. Bis Mohseena ihr auf die Schliche kam. ![]() Foto: Holger Groß
Mariem sitzt vor dem Café in Kreuzberg. Aliza, die älteste Tochter von Mariem und Mudu, sitzt neben ihr. Zara und Zafiya sind noch in der Schule. Nicht Mariem ist nach Bangalore gegangen, sondern Mudu kam nach Berlin. Mariems Vater hatte es so gewollt. »Das war erst einmal ein Kulturschock für Mudu. Er sprach ja kein Wort Deutsch, Berlin war eine vollkommen fremde Welt. Und er wollte doch eigentlich immer aufs Land. Ich habe mich oft gefragt, ob das so richtig war.« Auch sie empfindet jetzt selbst manchmal so etwas wie Heimweh nach Indien. Obwohl sie nie in diesem Land gelebt hat. »Einmal war ich für drei Monate dort. Sonst nur für wenige Wochen...« Jetzt fahren sie öfter, mit den Kindern, die ganze Familie, in den großen Ferien, lauter echte Berlinerinnen. Und Mudu. Aber Mariem ist stolz über das Erreichte. Wie ihr Vater. Der hat ein indisches Kulturzentrum gegründet. Sie drei winzige Kolonien, drei indische Souvenirläden in Kreuzberg, zuletzt den in der Kreuzbergstraße. Sie alle sind ihr Eigenes, Agas Own! Mariem Aga ist glücklich über das neue Stück Indien, das Morgenland. Diesen Laden, in dem Mudu eines Tages verschwand und gar nicht mehr wiederzukommen schien. Und über den sie, kaum war sie eingetreten, sagte: Den will ich haben! Es war - wieder einmal - Liebe auf den ersten Blick. |