Kreuzberger Chronik
Juli 2024 - Ausgabe 261

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die Markthallen-Genossenschaft


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von Achim Fried

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Erst musste der vegane Supermarkt ausräumen,

dann Radio Multikulti sein Studio abbauen.

Aber jetzt kommt CoCo!


Foto: Privat




Die Aufregung war groß, als sich 2022 unter den Markthallenhändlern das Gerücht verbreitete, dass in der ersten Etage der Marheinekhalle, dort, wo einst die Browse Gallery allmonatlich Scharen Kulturinteressierter anlockte und später ein veganer Supermarkt ein eher unauffälliges Dasein fristete, ein Hotel einziehen sollte. Die Lebensmittelhändler fürchteten finanzielle Einbußen durch monatelangen Baustellenstaub und Lärm und waren irritiert darüber, dass das Hallenmanagement bereits mit möglichen Investoren verhandelte, ohne die Händler zu informieren. Auch im Kreuzberger Bezirksrathaus ahnte niemand etwas von den Plänen der senatseigenen Berliner Großmarkt GmbH. Als ein kleines Stadtteilmagazin über die Entwicklungen berichtete, wurde das schmale Blättchen zum Tagesordnungspunkt 4 auf einem Treffen zwischen der BGM und Hallenhändlern, auf dem der Hallenbesitzer seine Mieter beschwichtigte und darum bat, dem Blättchen nicht zu viel Bedeutung beizumessen.

Inzwischen ist die Visionsblase vom Hotel im ersten Stock zerplatzt. Finanzkräftige Investoren zeigten sich keine mehr, nachdem alle, die auf dem Balkon ihr Glück versucht hatten, gescheitert waren. »Ich bin seit fünfzehn Jahren hier, und das war ein einziges Rein und Raus da oben!«, sagt Ulrike Piechas vom BioBuffet im Erdgeschoss. Auf der Empore schien ein Fluch zu lasten, die Treppe in den ersten Stock ein unüberwindbares Hindernis für Besucher zu sein. Mehrmals noch trafen Händler und BGMler abends nach der Arbeit in der Halle zusammen und beratschlagten gemeinsam. Büros für das Bezirksamt waren im Gespräch, ein DHL-Shop, ein Laden mit Haushaltswaren oder ein Heimwerkermarkt... Doch Händler und Hallenbetreiber wurden sich nicht einig. Bis der BGM die Geduld ausging und der entscheidende Satz fiel: »Dann macht ihr doch mal einen Vorschlag!«

Das war der Moment, in dem Ulrike Piechas, längst so etwas wie die inoffizielle Hallensprecherin, das Ruder übernahm. Redegewandt und enthusiastisch trommelte sie Griechen, Spanier und Deutsche, Kräuter- und Buchhändler, Tabak- und Fischverkäufer zusammen, um eine Genossenschaft zu gründen und ein Konzept zu entwickeln, das die leere Fläche unter dem Dach zum Publikumsmagneten macht, der Kundschaft in die Halle lockt. Wenn die dann die Treppe wieder herunterkommt, könnte sie beim BioBuffet Fleisch oder beim Griechen Käse kaufen oder beim Spanier oder beim Italiener auf ein Glas Wein hängen bleibt. Es klingt ein bisschen wie im deutschen Bundestag, wenn Ulrike Piechas sagt: »Die Frage ist: Warum gehe ich da die Treppe rauf?!«

Innerhalb weniger Wochen gelang es ihr, 15 Händler von der Gründung einer Genossenschaft zu überzeugen und einen finanziellen Grundstock für das Wagnis anzulegen. Nach weiteren Sitzungen und Recherchen in alle möglichen Richtungen einigte sich die Gruppe auf die amerikanische Co-Working-Space-Idee: die tageweise oder monatsweise Vermietung von Arbeitsplätzen. Der Zeitpunkt für ein solches Angebot ist günstig, denn krisengeschwächte kleine Geschäfte oder Freiberufler können sich längst keine Büroräume mehr leisten. Zudem hat sich in Post-Corona-Zeiten eine Art Sehnsucht nach Großraumbüros entwickelt. Das Bedürfnis, aus der Einsamkeit des Home-office auszubrechen ist zu einem Trend angewachsen, während der Idylle der Stille eines heimischen Schreibtisches neben offenem Fenster und Blumentopf der Verdacht eines Anachronismus anhaftet.

Michalis Pantos, Chef der griechischen Feinkostabteilung und Standnachbar von Ulrike Piechas, schmunzelt. Er glaubt nicht daran, dass die Genossenschaft mit ihren Schreibtischen viel Geld verdienen wird. »Wir hatten hier ja schon einmal eine Genossenschaft gegründet. Am Ende war das ganze Geld weg.« Aber die Chefin vom BioBuffet hat ihn trotzdem für ihr Projekt gewinnen können. »Ich mag Leute, die Ideen haben!«, sagt Pantos. »Und einen Vorteil hat es für mich auf jeden Fall!« Dann erzählt er von einem Gast, der mit seinem Kaffee und seinem Laptop vier Stunden an einem seiner Tische saß und arbeitete. »Als ich ihm sagte, dass ich für jeden Tisch Miete zahlen muss, fing er an, mich zu beschimpfen. Dem kann ich das nächste Mal sagen, dass es hier oben Arbeitsplätze gibt mit allem Drum und Dran.«

Auch die beiden Söhne des Hallenschusters gehören zur Genossenschaft. Ihr Vater hatte Ulrike Piechas bereits zugesagt, als sein Herz plötzlich stillstand. Die Söhne wollen das Geschäft nach dem Tod des Vaters gerne weiterführen. Piechas wollte ihnen entgegenkommen und fragte, ob sie vielleicht mit einer kleineren Summe einsteigen möchten. Aber die zwei schüttelten den Kopf. »Wir möchten fortsetzen, was unser Vater begonnen hat. Also zahlen wir auch den gleichen Beitrag wie alle anderen. Außerdem sind wir immer Optimisten.«

Lutz Stolze vom Buchladen Kommedia glaubt, dass die BGM jetzt auf dem richtigen Weg ist. »Wir haben das Hotel verhindert, das war das Wichtigste. Ich bin grundsätzlich offen für Veränderungen, aber man muss aufpassen, dass da nichts aus dem Ruder läuft, und dass das hier wenigstens ein bisschen so bleibt, wie es ist.«

Auch im Markthallenkiosk O&P ist man überzeugt von der Idee. Die besorgniserregenden Hotelpläne seien begraben, die Händler könnten mitreden und mitgestalten, selbst die Verantwortlichen im Senat müssten nach den vielen gescheiterten Versuchen mit der jetzigen Lösung zufrieden sein. Sonst wären sie der Genossenschaft am Ende mit der Miete nicht so weit entgegengekommen. »Auf jeden Fall hat die BGM jetzt ein Sorgenkind weniger.«

Für die Vermieter sind die Risiken kalkulierbar. Großartige Umbauten stehen keine an. Außerdem hat die Senatsvertretung mit ihrem ehemaligen Hallenmanager Andreas Foidl immer noch einen Fuß in der Hallentür und womöglich auch einen Verbindungsmann, der sie über die laufenden Ereignisse informieren und ein Auge darauf haben könnte, dass die Genossenschaft unter Steuermann Piechas keinen vermeintlich falschen Kurs einschlägt. Gemeinsam mit Andreas Krüger, dem ebenfalls mit besten Verbindungen zur Stadtpolitik ausgestatteten Modulor-Gründer und Unternehmensberater, war er im Auftrag der Markthändler als Coach engagiert und an der Planung des Co-Working-Space beteiligt. Foidl und Krüger kennen sich aus im Schreibtisch-Geschäft und haben bereits das Modulor-Center am Moritzplatz aufgebaut. Auch dort werden Arbeitsplätze vermietet.

Am optimistischsten von allen aber ist Ulrike Piechas. Es geht voran: Zwei Vorstände und ein Aufsichtsrat sind bereits gewählt, die Genossenschaft steht. »Der Strom ist angemeldet, der Bauplan ist fertig, ein Logo und einen Namen haben wir auch schon: Die CoCo Coworking Community.« Es kann also bald losgehen mit den Umbauten. Die Hallenchefin ist sicher: Noch in diesem Sommer werden die ersten Leute an ihren Laptops sitzen, Kaffee trinken und arbeiten.

Es wird, so der Plan, Fix-Desks geben und Flex-Desks, Fix-Tarife und Flex-Tarife. Für die, die längerfristig einen Schreibtisch buchen, und für diejenigen, die nur tageweise oder stundenweise kommen. Am Eingang soll wie auf dem Flughafen ein elektronischer Check-In mit Karte möglich sein. Aber das ist Zukunftsmusik, am Anfang müssen die Händler wohl hin und wieder selbst in die Rolle des Pförtners schlüpfen. Geöffnet ist dann von 8 bis 20 Uhr.

18 Fix-Desks an 140 Zentimeter langen Schreibtischen soll es geben mit abschließbaren Schränken für Aktenordner oder den persönlichen Bürobedarf, sowie in einer langen Reihe 14 günstigere und schmalere Flex-Pätze mit Blick auf das Hallenleben. Zwei kleine Konferenzräume werden entstehen und zwei schalldichte »Telefonzellen« für Gespräche, die man nicht mit dem Handy im Gewusel einer Markthalle führen möchte. Ein Kopierer wird für alle zur Verfügung stehen und eine kleine Küche soll eingerichtet werden.

Und natürlich soll es auch an diesem Arbeitsplatz eine gemütliche Ecke mit Sofa, Sesseln, Cafétisch und Kühlschrank und ein paar Topfpflanzen geben. Und einen Vorraum für Veranstaltungen, Lesungen, kleine Konzerte oder Geburtstagsfeiern. Das Leben besteht ja schließlich nicht nur aus Arbeit. Das hier oben soll ein Treffpunkt werden. »Die Halle«, sagt Piechas und meint damit die neue Halle mit ihren Tischen und Stühlen auf der Straße, »ist noch immer das Zentrum des Kiezes. Hier trifft man jeden.«

Die CoCo-Chefin ist begeistert. Sie freut sich, Alt und Jung aus der Halle in einem Boot zu haben. Und darüber, dass sie endlich alle mitgestalten und mitreden können. Das war ihr ein »Anliegen. Ich möchte mit den Leuten hier gemeinsam was wuppen! Wir haben es doch alle nicht leicht in diesen Zeiten. Aber wenn das klappt da oben, dann übernehmen wir auch noch die andere Seite der Galerie.«

Dann muss sie laut lachen und fügt scherzhaft hinzu: »Und irgendwann übernehmen wir die ganze Halle!« - Aber wer weiß schon, wie es weitergeht. Es haben schon viele etwas gesagt und eigentlich nicht sonderlich gemeint. Und dann...


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