Dezember 2024 - Ausgabe 265
Reportagen, Gespräche, Interviews
Kieztage ![]() von Horst Unsold |
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![]() Es ist 14 Uhr und 2 Minuten. Vor der alten Post am Marheinekeplatz stehen Menschen und warten. Gegenüber, am Eingang zum Friedhof, haben sich einige Ordnungshüter im orangefarbenen Dresscode der Berliner Stadtreinigung und den gelb-blauen Uniformen der Polizei postiert. Von 13-18 Uhr, so stand es auf der Website und auf den Zetteln, die an den Hauseingängen der benachbarten Straßen hingen. Spätestens um 13 Uhr waren die ersten Kreuzberger auch hier und luden ab, was sie abladen wollen. Es ist Sperrmülltag. An einigen wenigen Tagen im Jahr dürfen die Kreuzberger ihren Müll auf die Straße stellen, ohne dass »ein Straftatbestand« vorliegt. Es ist 14 Uhr und 10 Minuten, aber die Frau mit dem Stuhl wird zurückgewiesen. »Erst müssen die Autos weg, die hier ordnungswidrig parken.« – »Es ist doch nur ein Stuhl!«, bittet die Frau. »Wer ordnungswidrig etwas auf der Straße abstellt, wird strafrechtlich verfolgt.« – »Na, dann komme ich eben in einer Stunde noch mal wieder!«, schüttelt sie den Kopf und schlurft die Straße hinauf. Andere waren schneller. Sie haben ihre Sachen vor dem Postgebäude schon abgeladen, bevor die Aufsicht eintraf. »Das ist jedes Mal so. Die ersten kommen schon in der Nacht!«, sagt einer der Orangenen. Es sieht aus wie so oft in Kreuzbergs Straßen: Ein zusammengerollter Teppich, zwei Matratzen, ein ausgefranster Korbsessel, ein Sofa, eine Polstergarnitur, Lautsprecher... Seit dem Morgen sind die Bewohner in der Nachbarschaft aktiv. Sie sind in die Keller gestiegen und auf die Dachböden, haben Besenkammern und Kleiderschränke durchstöbert. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, sich bequem und kostenlos jenes sperrigen Hausrats zu entledigen, der nicht mehr gebraucht oder nicht mehr gemocht wird. An allen anderen Tagen des Jahres muss man zu einem der Recyclinghöfe fahren, die immer weiter Richtung Stadtrand wandern. Wer kein Auto hat, kommt unweigerlich auf den Gedanken, das ausgediente Fernsehgerät kurzerhand vom Balkon zu werfen. Das Angebot der BSR, Sofas, Tische, Kühlschränke gegen eine Abholgebühr von 50-100 Euro abzuholen, ist für viele noch zu teuer. Eine Frau kommt mit einem Kinder-Trampolin. »Ich bin schon drei mal oben gewesen und hab noch was geholt!«, sagt die Mutter, deren Kinder schon zu groß sind fürs Trampolin. »Aber ich muss mich beeilen, bevor mein Mann kommt. Der kann nämlich nichts wegwerfen.« – »Da wird der Haussegen aber schiefhängen, wenn er heimkommt.«, sagt der Mann in orange. – »Ach, das merkt der doch gar nicht. Wir haben so viel Kram!« Inzwischen sind die Autos abgeschleppt, der Markt ist eröffnet. Denn das ist ein Markt, kein Schrottplatz! Beim sogenannten »Kieztag« darf nicht nur Müll auf die Straße gestellt werden, es darf auch getauscht werden. Es gibt ein Zelt mit Stelltischen, auf denen stehen Stereoanlagen, Videorecorder, Kaffeemaschinen, - hübsch sortiert wie auf dem Flohmarkt. Nur kosten tun sie nichts. »Das könnte man doch eigentlich jeden Monat machen.«, sagt eine Mutter mit Baby auf dem Arm und wühlt in der Kleiderkiste. »Warum gabs das nicht schon früher? Alle beschweren sich, dass jeder seinen Müll auf die Straße stellt, aber so gehts doch.« Ein Ex-Hippie antwortet: »Das gabs ja auch schon einmal! In den Sechzigern, als die Leute wieder Geld hatten, um die alten Möbel auf den Speicher zu räumen und sich neue Sachen zu kaufen. Die Berliner Dachböden waren voller Schränke, Tische, Betten. Da protestierte die Feuerwehr, und dann wurde der Sperrmüll eingeführt. Sämtliche Trödler Berlins zogen mit ihren Wagen schon morgens um Fünf durch die Straßen. Ich habe meine ganze Wohnungseinrichtung von der Straße.« Das Leben in Berlin war zu Mauerzeiten bezahlbar. Und es war darüber hinaus sogar politisch korrekt: man protestierte gegen die »Wegwerfgesellschaft«, wehrte sich gegen die »Konsumgesellschaft«, ideologisch untermauert durch eine kritische Studentenschaft, die in der industriellen Massenproduktion eine krankhafte Ausgeburt von Kapitalismus und freier Marktwirtschaft erkannte. Sechzig Jahre später scheint auch der Berliner Senat das verstanden zu haben. Angesichts wachsender Müllberge in den Straßen erinnerte er sich an die alten Sperrmülltage und führte sie unter dem Namen Kieztage - als wäre es seine gute Idee gewesen - wieder ein. Jedoch nicht mehr stadtweit einmal im Jahr, sondern zu unterschiedlichen Terminen und beschränkt auf jeweils einen kleinen Kiez, je nach Bedarf. Die meisten Kieztage gibt es in Neukölln, wo im Halbjahr 14 Sperrmüllaktionen geplant sind. Auf Platz 2 folgt Kreuzberg mit 9 Tagen, gefolgt von Spandau und Mitte. Die Schlusslichter liegen alle im Osten mit ein oder zwei Terminen. »Da herrscht noch Ordnung!« Doch ausschlaggebend für die Häufigkeit dürfte neben dem traurigen Straßenbild in einigen Bezirken auch die Beliebtheit solcher Aktionen zu sein. Kreuzberg war schon immer das Eldorado der Trödler und Tauschbörsen. Jahrelang gab es alternative Märkte im Nachbarschaftshaus an der Urbanstraße oder im Statthaus Böcklerpark. Unter dem netten Titel Mein BSR-Kieztag wendet sich die orangene Stadtreinigung auf ihrer gleichfarbigen Website an die »lieben Berlinerinnen und Berliner« und schreibt: »Bringen Sie Kaputtes und Altes, ob Groß oder Klein, vorbei und entsorgen Sie kostenfrei. So tragen Sie dazu bei, Ihr direktes Wohnumfeld sauber zu halten.« Auf der Seite finden sich Termine und Bestimmungen zu Art und Umfang der Müllabfuhr sowie der Hinweis, dass der Kieztag »eine Vorort-Sammlung für Bürgerinnen und Bürger« sei, »die nicht mobil sind.« Angegliedert sei ein Tausch- und Verschenkmarkt: »Gut Erhaltenes können Sie den Kolleginnen und Kollegen in Orange geben, die es auf den Tischen im Zelt zum Tausch oder zum Verschenken anbieten.« So fände sich für die alte Kaffeekanne noch ein neues Zuhause. Sollte die Kanne auch dort keinen Abnehmer finden, erhält sie eine letzte Chance in der NochMall – einer alternativen Shoppingmall auf 2600 Quadratmetern in Reinickendorf. In dem Gebrauchtwarenkaufhaus finden sich im Jahr mehr als 400.000 Besucher ein, um einen Blick auf 500.000 vorläufig ausgediente Artikel zu werfen, die selbst den Müllmännern und Müllfrauen auf den Kieztagen und in den Recyclinghöfen zu schade sind zum Wegwerfen. Sieben Tage hat die Kaffeekanne Zeit, wiederentdeckt zu werden. Dann allerdings ist ihr Schicksal besiegelt und sie macht Platz für eine neue Kanne. Man scheint verstanden zu haben: Es ist nicht alles Müll, was nicht mehr glänzt. Mehr als 60 Mitarbeiter des Kaufhauses sortieren, putzen und bepreisen - genau genommen: Müll! Das Risiko, mit Müll Gewinn zu erwirtschaften, war der BSR zu groß, weshalb sie das Experiment lieber an eine GmbH abgab. Die soll bis 2027 schwarze Zahlen schreiben. Und sie ist zuversichtlich – obwohl Corona ihr erst einmal einen dicken roten Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Es ist 17 Uhr. Der Sperrmüllberg schrumpft und wächst noch immer. Es gibt Teppiche, Lampen, Bürostühle, Höhensonnen, Staubsauger, Bügelbretter, Schuhregale - alles, was der Mensch zum Leben braucht. Nur nichts wirklich Schönes. Die hundertjährigen Möbel aus den Altberliner Bürgerwohnungen, die einst auf der Straße landeten, um Platz für Ikea zu machen, sind verschwunden. Trotzdem stehen etwas abseits einige aufmerksame Beobachter. Aber wer hier etwas abstauben will, muss sich beeilen. Manchmal dauert es nur Sekunden und die Chance ist vertan. Gerade haben vier Mädchen ein altes Sofa angeschleppt, da eilt schon einer der starken Müllmänner zu Hilfe: Fünf Sekunden später hört man, wie das gefräßige Maul des Müllwagens das gute Stück verschlingt und quietschend, knirschend und knackend zermalmt - während eine der vier Frauen ihm einen letzten, pötzlich etwas traurig wirkenden Blick nachwirft. Ein Nachbar kommt schon zum dritten Mal mit der Schubkarre. Er hat den Keller ausgeräumt. Auf dem Rückweg trägt er zwei Holzböcke unterm Arm. »Man muss aufpassen, dass man nicht mehr mitbringt als man wegbringt. Sonst ist der Keller gleich wieder voll.« In kleinen Grüppchen stehen sie zusammen und plaudern, über den Müll, über Trump und Scholz und übers Essen. »Fehlt nur noch die Bratwurst und der Glühwein.« – »Und eine Band, die Rock‘n‘Roll spielt….« Zwei Lkw-Ladungen hat die Stadtreinigung an diesem Tag abtransportiert, 14 Tonnen. Aber ein Teil dieser 14 Tonnen wurde noch einmal gerettet und bekam eine 2. Chance im Warenhaus: Eine Stereo-anlage, eine Kaffeemaschine, zwei Korbsessel... Horst Unsold |