Kreuzberger Chronik
September 2023 - Ausgabe 252

Mühlenhaupts Erinnerungen

Die Sperrmüllsammlerin


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von Kurt Mühlenhaupt

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Während des Krieges wurden wegen der Brandgefahr die Dachböden völlig entrümpelt. In all den Jahren danach sammelte sich von neuem der Wohlstandsmüll. Das heißt, man kaufte sich auf Abzahlung neue Möbel. Die alten landeten auf dem Dachboden, im Keller oder im Park. Oben wie unten war alles überfüllt. So wie sich der Wohlstandsmüll nun anhäufte, barg er in sich eine riesige Gefahr. Der Oberbrandfeuerwerker warnte.

Da startete der Bürgermeister die Aktion »Sperrmüll«. Das war eine große Aufgabe für die Stadtreinigung. Es konnte nicht alles auf einmal geräumt werden. Mal kam der eine Stadtteil dran, mal der andere. Zwei Tage vorher wurde die Maßnahme angekündigt. Es wurde entrümpelt. Am nächsten Tag ging die Schlepperei los. Die ganze Aktion schlug ein wie eine Bombe, alle machten mit. Berge voller Schied und Dotendeibel häuften sich in den Straßen an. Die Berge wurden immer höher und vieles kam da zum Vorschein. Was der eine wegwarf, konnte der andere gebrauchen. Und schleppte es erneut in den Keller. Nun hatte aber nicht jeder die Zeit und auch nicht die Geduld, alle Berge zu durchforsten. So bildete sich bald eine Gruppe von Menschen und in Berlin war ein neuer Beruf geboren: der Sperrmüllsammler.

Die Akteure waren hauptsächlich Frauen. Die besten unter ihnen waren robust, schmuddelig, streitsüchtig und kodderig. Meist hatten sie eine spitze Nase und vor allem Argusaugen. Als Werkzeug trugen sie einen Spazierstock, der unten mit einem krummen Haken versehen war. Mit dem konnten sie aus dem entferntesten Winkel alles ans Licht zerren. Sie trugen einen möglichst weiten Mantel oder eine Art Umhang, um darunter die eine oder andere Kostbarkeit zu verstecken. Zu einer Sperrmüllsammlerin gehörte auch ein ganz bestimmter Kinderwagen, einer aus den Fünfzigern, der groß und tief genug war, um alles in sich aufzunehmen. Sie waren echte Glücksritter. Ein ganz kleines bisschen zählte ich als ehemaliger Trödler auch dazu. (...)

Dieses Entrümpeln und Durchstöbern fing abends an und ging die ganze Nacht über weiter bis zum nächsten Morgen. Die vielen Blechkochtöpfe, Pfannen und Badewannen machten dabei so viel Lärm und Krach, daß in dem betroffenen Stadtteil keiner ein Auge zudrücken konnte. Dazu kam noch, daß die Haufen von den Sperrmüllsammlern derartig in die Breite gezogen wurden, daß der Fleischer, der Bäcker und der Schuster nicht mehr zu erreichen waren. Sie hätten schließen müssen. So ging das nicht weiter. Selbst der Bürgermeister, der in einem anderen Stadtteil wohnte, konnte wegen dem Geklapper seiner Arbeit nicht mehr nachgehen. So wurde die Sperrmüllaktion nach Jahr und Tag wieder abgebrochen und damit verschwand auch der Beruf der Sammlerin wieder.





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