Kreuzberger Chronik
Oktober 2023 - Ausgabe 253

Strassen, Häuser, Höfe

Nostitzstraße 41


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von Werner von Westhafen

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Eine fast hundertfünfzigjährige Geschichte


Zu den prägnantesten Merkmalen Berlins gehören die vielen Brandwände. Die meisten entstanden, als während des Krieges Bomben eine Lücke in die geschlossene Häuserzeile rissen. Nach dem Abräumen des Schutts standen sich dann zwei fensterlose Giebelwände einander gegenüber, in die man im Chaos der Nachkriegsjahre gerne Fenster und Gucklöcher stemmte.

Die fensterlose Giebelwand des Eckhauses Nostitzstraße 41 aber entstand schon vor dem Krieg. Eigentlich hätte sich hier lückenlos die 42 anschließen sollen, doch dann durchkreuzte die Berliner Omnibus Actiengesellschaft den städtebaulichen Entwurf. Die Busfahrer hatten ein Grundstück an der Gneisenaustraße zur Errichtung eines Busdepots gekauft, das im Süden bis zum Haus Nostitzstraße 41 reichte. Um für den Parkplatz separate Ein- und Ausfahrten anlegen zu können, wurde 1873 an Stelle des geplanten Hauses mit der Nummer 42 eine zusätzliche Querstraße in den Plan gezeichnet: die damalige Mariendorfer- und heutige Riemannstraße. Deshalb besitzen die Eckhäuser Nostitzstraße 41 und 42 an den Seitenwänden keine Fenster.

Klaus Wichmann hat die Geschichte des Eckhauses sorgsam recherchiert, und Lothar Übel, der Kreuzbergspezialist unter den Berlin-Historikern, hat sie in seine lesenswerte Publikation über die Nostitzstraße aufgenommen, die er mit dem Kreuzberger Geschichtskreis 1992 herausgegeben hat.

Der erste Besitzer des Baugrunds war der Maurerpolier Baitz, der bereits 1866 einen ersten Bauantrag stellte. Doch während auf anderen Grundstücken die Maurer bereits die Kellen schwangen, wartete Baitz jahrelang vergeblich auf die Genehmigung und begann ohne diese mit dem Bau. Als die Behörden sich ungnädig zeigten, verkaufte er an einen Tischler, der offensichtlich gute Kontakte zum Magistrat unterhielt und schon eine Woche später mit dem Bau beginnen durfte. 1881 waren Vorderhaus und Seitenflügel sowie das »Appartement-gebäude« auf dem Hof, das den Bewohnern zum Stuhlgang diente, fertiggestellt. Später wurden für die vornehmen Vorderhausbewohner Innentoiletten im Treppenhaus arrangiert, die Mieter des Seitenflügels durften bis zur Generalrenovierung 1988 das Appartement nutzen.

Etwa alle fünf Jahre hatte die Nummer 41 bereits den Besitzer gewechselt, als der Gastwirt Knappe das Haus erwarb und den Einbau von Fenstern in der Giebelwand entlang der Mariendorfer Straße beantragte, sie jedoch nie einbaute. Auch unter den vielen nachfolgenden Besitzern zeigte niemand »besonderes Interesse an der Instandhaltung«, so dass es sich bereits im Alter von 35 Jahren in einem desolaten Zustand befand. »Der Verfall der Bausubstanz stand«, wie der Autor und Architekt Jürgen Wichmann schreibt, »dem ökonomischen Kalkül nicht im Wege«. Nach einer Inspektion durch die Ortskrankenkasse musste das Haus, das sich »in einem völlig vernachlässigten Zustand befand«, zwangssaniert werden. Immer wieder klagten Mieter mit Räumen entlang der fensterlosen und dünnen Giebelwand – man hatte ja damit gerechnet, dass eine weitere Mauer des Nachbarhauses hinzukommt – über Kälte und Schimmel.

In den 30er Jahren betraten internationale Spekulanten die Szene und ein Mann aus Amsterdam kaufte das Haus. Mit dem Krieg kam die Wohnungsnot, danach die erste Mietpreisbindung, und die Hausbesitzer Berlins klagten darüber, kein Geld für notwendige Renovierungen zu haben. 1963 bezahlte Herr Cruse aus Celle 69.000 Mark für das Haus in der geteilten Stadt, Anfang der Siebziger verkaufte er an die gemeinnützige GEWOBAG bereits für 133.000 Mark.

»Jetzt setzte die Spekulation mit dem Abriss des Hauses ein, denn ein Neubau (…) würde einen größeren Mietertrag einbringen. Die als Sanierungsträger vom Senat eingesetzte GEWOBAG tauschte nun auch noch das heruntergekommene Haus gegen ein Haus im Sanierungsgebiet am Chamissoplatz ein. Der Kaufpreis der Nostitzstraße 41 war inzwischen auf 302.500 Mark gestiegen!«

Damit überließ die GEWOBAG das Haus den Spekulanten. Der neue Eigentümer beantragte umgehend die Abrissgenehmigung, doch im Kreuzberger Rathaus stellte man sich stur. Der Bauunternehmer zog alle Register, am Ende jedoch entschied das Landesdenkmalamt sich für den Erhalt des Gebäudes und verfügte eine vorläufige Eintragung ins Baudenkmalbuch. Dennoch stand das Haus 1985 vollkommen leer. Der Besitzer hatte vorsorglich entmietet, und tatsächlich entschied sich der Senat gegen den Rat des Landesdenkmalamtes und des Bezirks und empfahl eine Abrissgenehmigung.

Doch vor der Bezirksverordnetenversammlung scheiterte der Spekulant abermals. Allerdings sicherte ihm der Bezirk Subventionen bei der Renovierung zu. Noch einmal wechselte das Haus für inzwischen 400.000 Mark den Besitzer und noch einmal drei Millionen wurden investiert, bis die Wohnungen im Jahr des Mauerfalls für eine sozialverträgliche Kaltmiete von 4.40 den Meter wieder den Mietern übergeben werden konnten. Und so endet diese Geschichte fast mit einem kleinen Happy End. Fenster allerdings sind noch heute keine in der Giebelwand.

Klaus Wichmann resümiert: Hätte die GEWOBAG »als Organ der städtischen Wohnungspolitik die Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt« anstatt die Nostitzstraße dem Markt zu überlassen, nur weil eine andere Immobilie mehr Profit versprach, dann wäre dies für den Steuerzahler weitaus günstiger gewesen.



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