Kreuzberger Chronik
Oktober 2023 - Ausgabe 253

Hausverbot

Der Urlaub


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von Michael Unfried

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Eine Spur zu freundlich für Kreuzberg

E-Klaus war einer der ältesten Stammgäste. Auch diejenigen, die hier seit 20 Jahren Billard spielten und jede Nacht bis morgens am Tresen standen und heiß gelaufene Diskussionen gerne vor der Kneipentür mit einer Prügelei beendeten, konnten sich ihre Kneipe nicht ohne E-Klaus vorstellen. Er war einer der stillen Gäste, konnte bei lauten Männergesprächen zwei Stunden nichts sagen, um am Ende verschmitzt grinsend einen kleinen aber humorvollen Kommentar abzugeben, der alle Beteiligten in erstauntes Schweigen fallen ließ.

E-Klaus war ein kleiner, schlauer Elektriker, der ebensogut Quantenphysiker oder Priester hätte werden können, der sich aber, gutwillig wie er war, lächelnd auch in jedes andere Schicksal gefügt hätte, und der nun, ohne zu jammern, jeden Morgen um fünf aufstand und jeden Tag um vier Feierabend hatte. Eine Stunde später tauchte er in der Kneipe auf, und spätestens um Mitternacht verließ er sie wieder.

E-Klaus war wegen seiner verschmitzten und stets freundlichen, aber nie anbiedernden Art bei allen beliebt. Sogar das Personal freute sich, wenn er am Tresen stand. Nur Ilona konnte ihn nicht ausstehen. Ilona hatte vor drei Monaten ihre erste Schicht hinterm Tresen geschoben und gleich am ersten Abend hatte sie diese laute Runde vor dem Zapfhahn. Es war Samstag, es war Sommer, draußen wurde es schon hell und die Männer bestellten eine Runde Schnaps nach der anderen. Unter ihnen der Elektriker, der nur zuhörte und vor Vergnügen grinste. Erst, als es Ilona gelang, der Männerrunde klarzumachen, dass das die letzte Runde war, schaltete er sich ein, lächelte sie freundlich an und sagte: »Ach, eine Runde kannst Du doch noch!« – Das war Anfang und Ende ihrer verbalen Beziehung zugleich. Sobald E-Klaus in der Kneipe erschien, zog Ilona die Mundwinkel so tief hinunter wie ein Barsch.

Eines Abends, noch vor Mitternacht, sagte Klaus: »Ich muss los. Um acht geht mein Flieger!« Alle waren erstaunt, Klaus hatte noch nie Urlaub gemacht, niemand konnte sich die Nächte ohne Klaus vorstellen. Klaus lächelte und sagte: »Ich kam gestern auf dem Heimweg am Reisebüro vorbei und da dachte ich, ich muss hier mal wieder raus!« – »Ich mach drei Kreuze!«, rief Ilona und gab eine Runde aus.

Doch am nächsten Abend stand Klaus wie immer pünktlich um vier in der Tür. »Du hast verschlafen?«, wettete die Stammkundschaft. »Ach nein, ich war wie immer um fünf wach. Aber dann habe ich mir einen Kaffee gemacht und ein bisschen Zeitung gelesen, und dann habe ich mir gedacht, dass es hier doch viel schöner ist!« Alle lachten. Nur eine lachte nicht, und als Klaus sein Bier bestellte, schüttelte sie einfach nur den Kopf und sagte: »Dein Bier steht in Rom. Ich brauch´ nämlich dringend mal Urlaub von dir!«


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