Kreuzberger Chronik
November 2023 - Ausgabe 254

Geschäfte

Edeka


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von Horst Unsold

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Es ist – wie so oft – nur noch der Name geblieben. Der Edekaladen von Herrn Kunisch in der Bergmannstraße 4 war der letzte seiner Art in der Gegend. Einer von jenen, die irgendwann mit dem Namen »Tante Emma-Laden« dekoriert wurden, weil es irgendwo auf dem Dorf einmal einen Laden gegeben hatte, in dem eine alte Emma noch anschrieb und noch die handgeschriebenen Einkaufszettel der Kinder entgegennahm, die von den Eltern zum Dorflädchen geschickt wurden.

Die Tante Emma in der Bergmannstraße war ein Mann. Ein Mann, der stets in einem weißen, dreiviertel-langen Apothekerkittel zur Arbeit erschien. Er trug eine Brille und ein strenges, ein bisschen biederes Gesicht, das jedem Eintretenden klarmachte, dass in diesem Geschäft alles noch seine Ordnung und Sauberkeit und Richtigkeit hatte. Seine kurzen Haare standen in bewusster Opposition zum Haarschnitt jenes immer größer werdenden Teils seiner Kundschaft, der schon die Berliner Hippie- und Kommunardengesellschaft der 68er auszeichnete.

An seiner Seite stand Ali. Ali sortierte, räumte hin und her, erledigte Botengänge. Er trug, genau wie sein Chef, stets einen weißen Kittel, der seiner dunklen Hautfarbe wegen noch etwas weißer strahlte als der seines Chefs. Ali passte gut zum Kolonialwaren-Stil, der dem Lädchen mit dem italienischen Kaffee, dem spanischen Wein, den französischen Käsesorten, dem Geruchsgemisch aus Milch und Fleisch, Gewürzen, Kaffee, Kakao und alten Bodendielen und einer dezenten Note von Putzmittel und Seife anhaftete.

Vor der Bergmannstraße 4 traf sich die Nachbarschaft. Sie stand an zwei kleinen Stehtischen vor dem Laden morgens zu Kaffee und Croissant und abends zum Glas Bier oder Wein mit belegtem Brötchen oder Zigarette. Edeka in der 4 war überschaubar, aber es gab alles, was der Mensch brauchte: Ein Anekdötchen, ein Witzchen, Brot und Brötchen, Salami, Mortadella, Leberkäse und Lyoner und daneben die großen Räder von Tilsiter, Graviere, Gauda oder Edamer, von denen Herr Kunisch mit seinem großen Messer akkurate kleine Dreiecke abschnitt. Es gab Kaffee und Kakao, Mehl und Butter, Konserven, Nudeln, Marmeladen und Zwieback von Brandt, und es gab noch eine strahlend blonde Frau, die auf einem Emailschild für Rama butterfein warb.

Die Firma Singer, die im Hinterhof der Bergmannstraße ihre Räume hatte, kam jeden Morgen zum Frühstück an den großen Stehtisch, der drinnen im Laden stand. Wenn sie kurz vor sieben eintrafen, dann hatte der Mann im Kittel alles schon fertig für die Truppe. Manchmal kamen sie auch zum Feierabend noch einmal vorbei, ebenso wie der Tischlermeister Köppen, der seine Werkstatt gegenüber hatte. Die Nummer 4 gehörte dazu zum Leben in der Bergmannstraße.

Den Edekaladen des Herrn Kunisch gab es fünfzig Jahre. Jetzt ist er weg. Dafür hat nebenan in der Nummer 5 ein neuer Edeka eröffnet. Ein Supermarkt, der sich kaum von anderen Supermärkten unterscheidet. Auch der neue Edeka öffnet schon um 7 Uhr, aber an den beiden Stehtischen auf der Straße wartet nicht mehr die Belegschaft von Singer auf ihre Wurstschrippen, da warten die letzten Nachtschwärmer vor dem Backshop am Eingang darauf, dass die blonde Backwarenverkäuferin Kaffee macht, während ein lächelnder schwarzer Afrikaner mit der Putzmaschine noch einmal durch alle Gänge fährt, wo vier Angestellte in Edeka-weißen Kitteln Ware einräumen. Wenn Herr Kunisch um 7 Uhr seine Tür öffnete, war das alles längst erledigt.

An der Wurst- und Käsetheke der Nummer 5 wartet eine erste Kundin. Sie war schon in der Nummer 4 immer eine der ersten. »Nachher wird es mir zu voll. Da ist gleich der halbe Tag rum!« Der Käse ist auch schon da, keine großen Laiber, sondern kleine, in Plastik gewickelte Stückchen, nicht drei oder vier, sondern dreißig oder vierzig Sorten. Auch von den Würsten sind schon einige ausgepackt, aber die Hälfte der Vitrine ist noch leer. Jetzt muss die junge Frau die Fenchelsalami suchen, die irgendwo ganz hinten liegt. Eigentlich müsste sie erst mal einräumen. »Wieviel darf es sein?« Wieder so eine Kundin, die nur 40 Gramm will! Die Verkäuferin schneidet ein paar dünne Scheiben ab und wirft die restlichen 1,5 Kilo der Salami in eine Kiste auf dem Boden. Plumps. »Sonst noch etwas?« Eigentlich müsste sie einräumen. Prager Schinken. Den gab es beim Herrn Kunisch auch. Schon wieder 40 Gramm. »Dürfen es fünf Gramm mehr sein?« Das hatte der Herr Kunisch auch immer gefragt. Aber es klang irgendwie anders.

Toilettenpapier gab es in der Nummer 4 auch, kleine Pakete, eine Sorte. Jetzt, in der 5, liegen sechs verschiedene Sorten: Super Soft, Ultra Soft, Ultra Smart, und selbstverständlich Ultra Clean. Es gab auch mindestens dreißig Sorten Honig, flüssigen und festen, hellen und dunklen, und natürlich »Glückshonig«. Und fünfzig Sorten Tee, Glückstee, Harmonietee, Entspannungstee, Energietee… - Bei Kunisch gab es Schwarzen Tee und Pfefferminze.

Als die frühe Kundin an der Kasse steht, ist es halb acht. Sie hat sich auf der Suche nach den Linsen in den vielen Gängen des Supermarktes verlaufen. Bei Herrn Kunisch sagte sie: 100 Gramm Lyoner, 150 Gramm Edamer, und zwei Rollen Klopapier. Bitte. Und während der Herr Kunisch schnitt und einpackte und abrechnete und das Geld wechselte, lästerte man gemeinsam ein bisschen über die Politik oder das Wetter, und wenn sie dann den Laden verließ, war sie einigermaßen informiert. Dabei waren nicht einmal zehn Minuten vergangen.



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