Kreuzberger Chronik
Juli 2023 - Ausgabe 251

Strassen, Häuser, Höfe

Mehringdamm 72


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von Werner von Westhafen

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Das Haus an der Ecke zur Kreuzbergstraße hat den Krieg gut überstanden. Lediglich die stuckvolle Fassade hat es verloren. Auch die Destille, die auf der alten Fotografie neben dem Seifenladen am Mehringdamm noch zu sehen ist, ist verschwunden. Schon um die Jahrhundertwende zog ein Pfandleiher in der ersten Etage ein und legte die goldenen Erbstücke, die ihm verarmte Nachfahren als Pfand gegen etwas Bargeld überlassen hatten, ins Schaufenster. So überlebte das Leihhaus zwei Weltkriege und die Inflation.

Welche Geschäfte sich auf der Südseite des Hauses an der Kreuzbergstraße niederließen, ist auf der Fotografie nicht zu sehen. Auch das majestätisch hohe Eingangsportal, unter dem im Winter Berlins Schlafsackbewohner Schutz vor dem Regen suchen, hat der Fotograf nicht festgehalten. Sein Blick galt der breiten Allee mit den Schienensträngen, die zum Quartier der Garde-Dragoner, dem heutigen Finanzamt, führten. Bald wird auch diese beeindruckende Perspektive durch die Türme des dort entstehenden Dragoner Quartiers der Vergangenheit angehören.

Prosaisch schmuck- und stucklos, irgendwie nackt steht das große Gebäude jetzt an der Ecke, doch ein Blick hinter die Tür des hohen Portals in das denkmalgeschützte und glasüberdachte Treppenhaus lässt noch heute jeden Besucher den Glanz vergangener Zeit erahnen. Das Treppenhaus schwingt sich in eleganten Kurven bis unter die Glaskuppel über der vierten Etage, kleine Brücken führen zu den jeweiligen Wohnungstüren und Gewerberäumen, deren stuckverzierte Decken vier Meter über dem Eichenparkett schweben.

Angesichts des architektonischen Aufwandes, der 1873 beim Bau des Hauses betrieben wurde, muss vermutet werden, dass es sich um eine der vornehmeren Adressen an der damals noch Belle Alliance genannten Straße handelte. Dennoch könnte - so zumindest haben es Historiker recherchiert - dieses Haus im Wintersemester 1921/22 einem mittellosen Studenten Unterschlupf geboten haben, dessen Name bis heute mit der Stadt Berlin eng verbunden ist: Erich Kästner.Aus den frühen Zwanzigerjahren gibt es nur wenige Dokumente, die den ersten Aufenthalt des Studenten in Berlin belegen. Erst Jahre später, als er endgültig nach Berlin zieht und der Mutter schreibt, wie er am Anhalterbahnhof in Berlin angekommen ist und gleich am nächsten Morgen einen Spaziergang zum Kreuzberg unternommen hat, findet sich ein Hinweis: Kästner scheint auf diesem Spaziergang Orte seiner studentischen Vergangenheit aufgesucht zu haben und erwähnt im Brief an seine Mutter ein Haus, das er »gerührt angeschaut« habe. Sogar die Adresse dieses Hauses hat der Autor vermerkt: Belle Aliance Straße Nr. 26.. Heute Mehringdamm Nr. 72.

Zwei Jahre nach dem Umzug nach Berlin veröffentlicht Kästner den Klassiker Emil und die Detektive, und 1931 den Roman über das Leben des unglücklichen Studenten Fabian. Wie vermutlich auch der Autor kehrt seine Romanfigur in der Geschichte noch einmal in jenes Viertel zurück, in dem er als Student im Winter 21/22 gewohnt hat. »Auf der Belle Alliance Straße erkannte er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte.« Auch Fabian scheint gerührt zu sein beim Anblick dieses Hauses: »Das Haus stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn grüßt oder nicht. Fabian ging die Treppen hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier wohne.«

Wirkliche Belege für den Aufenthalt Kästners in dem Haus gibt es keine. Nirgends findet sich der von allen Zweifeln erlösende Hinweis darauf, dass Erich alias Fabian in der geräumigen Wohnung einer Geheimratswitwe zur Untermiete wohnte. Oder dass der mittellose Student im Souterrain des Hinterhofes ein dunkles, aber günstiges Bedienstetenzimmer angemietet hatte.

Sicher ist, dass Kästner sich in der Gegend um den Kreuzberg bestens auskannte. Unvergesslich ist Lesern jener Moment, wo Fabian auf dem »Plateau des Kreuzberges« die Bekanntschaft mit einem alten Physiker macht, der seine Wohnung verloren hat. »Heut abend schlaf ich in der Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das Haus. Wenn der Portier fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist Oberpostschaffner. Ich steige hinauf, gehe an der Wohnung der Familie Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Manchmal liegt sogar eine alte Matratze da.«

Heute wohnt keine Beamtenwitwe mehr im Haus am Eck. Angeblich wird es von »renommierten Galeristen« bewohnt und ist ein »Hotspot der Mode- und Kunstszene.« Die Firma Berlinhaus wirbt auf ihrer Internetseite mit einer »Lichtkuppel im Renaissance Stil, außergewöhnlichem Flair« und dem nahgelegenen Viktoriapark »mit seinem einzigartigen Wasserfall.« Die hellen 5-Zimmerwohnungen haben stattliche Mietpreise, dass sie einmal Studenten als Unterkunft gedient haben, erscheint unwahrscheinlich.

Doch klingelt man heute an der Tür der Nummer 72 und steigt, so wie der obdachlose Physiker, einmal die schöne Treppe hinauf bis zur gläsernen Kuppel, dann könnte man sich das schon vorstellen: Wie einst der Student Erich dort auf einer alten Matratze lag und in den Himmel mit den Sternen schaute und zu träumen begann von einer Karriere als Schriftsteller.

Literaturnachweis: Michael Bienert, Kästners Berlin, vbb 2014



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