Kreuzberger Chronik
Februar 2023 - Ausgabe 246

Kreuzberger
Sinan Güngör

Ohne Humor kann man keine Karikaturen zeichnen


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von Hans W. Korfmann

Fotos: Holger Groß

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Was den jungen Mann aus einem türkischen Städtchen an der Mittelmeerküste dazu bewog, ausgerechnet ein poesieloses Fach wie Chemie zu studieren, weiß er heute selbst nicht mehr genau. Zwar hatte er ein Faible für Mathematik und Naturwissenschaften, aber die Schulhefte des Schülers Sinan hätten die Lehrer nicht in die Hand bekommen dürfen, denn in ihnen befanden sich weniger Buchstaben und Zahlen als Skizzen und Zeichnungen. »Während die Lehrer da vorne redeten und redeten, saß ich hinten und kritzelte und kritzelte.«


Mit der Mutter und den Geschwistern Mitte der Fünfzigerjahre. (2. v. links, Foto privat)

Aber der kleine Sinan muss beim Zeichnen gut zugehört haben, denn einige Jahre später studierte er bereits an der Technischen Universität von Istanbul Chemie, und als er 1973 nach Dortmund kam, schrieb er sich zunächst für das Fach »Chemietechnik« ein. Damit befand sich der türkische Einwanderer auf dem Weg in ein gutbürgerliches Leben. Dass einmal ein Künstler aus ihm werden würde, war unwahrscheinlich.

Viele Jahre später nahm er seine kleine Tochter Aylin mit zum Berliner Ostbahnhof, wo gerade der »Maus-Zug« eingefahren war. Mit dem Festzug feierte der Westdeutsche Rundfunk das 25-jährige Jubiläum der »Sendung mit der Maus« . Auf dem Bahnhof waren Hunderte begeisterter Kinder und Eltern, und der Vater von Aylin saß an einem Tisch und signierte Bilder von Lars, dem Eisbär. Als sie am Abend nachhause kamen, nahm die Tochter in der Küche die Mutter bei der Hand und flüsterte: »Du, Mama, der Papa ist berühmt!«

Sinan Güngör lächelt, wenn er daran zurückdenkt. Er ist keiner, der laut lacht. Sinan Güngör lächelt still und freundlich in sich hinein. Es ist ein Lächeln, das einem vertraut zu sein scheint, das man glaubt, schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Immer wieder, auf Partys oder Veranstaltungen, zu denen er eingeladen wird, schauen die Gäste ihn an und fragen, was er eigentlich so mache. Wenn Sinan Güngör sagt, dass er Zeichner sei, und wenn sie dann fragen, was er so zeichne, und wenn er dann sagt, er zeichne die Maus und den Eisbären, dann sehen sie ihn ungläubig an und sagen: »Was? Sie meinen Lars, den weltberühmten Eisbär!« Und weil Sinan Güngör dann wieder zu lächeln beginnt, glauben sie, er scherze nur.

Doch Sinan Güngör ist der Mann, der Lars zum Laufen brachte. Der ihm eine Seele einhauchte, ihn zum Leben erweckte und zum Star machte. Bis die Filmbranche den kleinen Eisbär entdeckte, existierte der Polarkreisbewohner nur in den Büchern des holländischen Kinderbuchautors Hans de Beer. Anfang der 90er flog der Holländer nach Japan, wo in einem Trickfilmstudio erste Probeaufnahmen mit Lars gemacht wurden. Hans de Beer sah sich die Entwicklung seines künftigen Filmstars an und schüttelte den Kopf: »Auf keinen Fall! Das ist doch nicht mein Eisbär!« Da erinnerte man sich beim WDR an Sinan Güngör und den Grafen von Rothkirch mit seinem Trickfilmstudio unter dem Dach in einem Kreuzberger Hinterhof.

Mit Thilo von Rothkirch im Atelier, 1986 (Foto: privat)


Den Grafen hatte Sinan kennengelernt, als er noch auf bestem Weg zum Chemietechniker war und in der Mensa der Universität ein Plakat hängen sah, das sich an die Freunde des Trickfilms wandte: »Samstag - Große Fete in der Fachhochschule für Design«. Auf die Party ging er nicht, aber einige Tage später sprach er in der Designer-Schule vor und erkundigte sich nach dem Bereich für Trickfilmer. Er erfuhr, dass ein gewisser Graf von Rothkirch der zuständige Lehrbeauftragte sei.

Güngör beschloss, dem Mann seine Aufwartung zu machen und ihm seine Zeichnungen zu unterbreiten. An einem Donnerstag des Jahres 1975 trafen die beiden aufeinander. Erst nach 40 Jahren, als man den Grafen 2015 auf den Bergmannfriedhöfen zu Grabe trug, trennten sich ihre Wege wieder. Sie haben die besten Jahre zusammen verbracht, der Graf als Produzent, Sinan Güngör als sein Chef-Zeichner. »Du hast«, flüsterte einer aus der Trauergemeinde am Grab, »den Grafen zum Millionär gemacht!« – Sinan Güngör runzelte zweifelnd die Stirn, dann antwortete er, nicht ohne zu lächeln und wie immer äußerst höflich und charmant: »Ich habe aber auch nicht schlecht verdient. Und außerdem waren da noch der Produzent und der Regisseur und der Redakteur und der WDR, das war ich ja nicht allein gewesen…«

Zunächst hatte Sinan Güngör »Animation« nur als Zweitfach belegt, aber nach zwei Jahren hängte er den Chemiekittel endgültig an den Nagel und konzentrierte sich auf sein zeichnerisches Talent. Schon 1977 erschien in den Ruhrnachrichten ein Bericht über einen türkischen Zeichner und eine Gruppe von Studenten um Graf von Rothkirch, die wie einst Walt Disney in einer Garage zu experimentieren begonnen hatte. Sinan Güngör, heißt es in dem Artikel, »habe bereits Preise bekommen«, unter anderem für einen Spot mit einem Gitarristen, der bei einem »Striptease Schwierigkeiten mit den Knöpfen seiner Hose« hat.

Der Zeitungsartikel endete mit dem Bedauern darüber, dass Güngör schon bald in seine Heimat zurückkehren wolle, um in Izmir einen Lehrstuhl für Animation einzurichten. Doch schon an seinem ersten Arbeitstag in der alten Heimat wurde dem jungen Trickfilmer klar, dass er mit dem Professor in Izmir nicht arbeiten konnte. Er kündigte, und nur wenige Tage später meldete sich sein alter Freund und Lehrer Thilo Graf von Rothkirch bei ihm und sagte, er sei jetzt in Berlin und habe einen Großauftrag erhalten. Güngör zögerte nicht lange und ging zurück nach Deutschland.

»Thilo war so ein Mensch, der sich nicht mit jedem gleich anfreunden konnte.« Bei Sinan Güngör hatte er von Anfang an gewusst, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Und dass dieser Zeichner eine Entdeckung war. Das Großprojekt hieß »Aladins Wunderlampe« und war eine arabische Fernsehserie, der Graf sollte Regie führen. Die Zusammenarbeit der beiden Männer im Studio in der Kurfürstenstraße zog sich über Jahre hin, alle paar Monate kam der Chef des irakischen Senders in Berlin vorbei, sah nach dem Rechten und beäugte die hübschen Mitarbeiterinnen im Berliner Trickfilmstudio.

1986 zog Güngör mit der frisch gegründeten »Rothkirch Cartoon-Film« ins benachbarte Kreuzberg, wo im verklinkerten Hinterhaus über vier Etagen die Druckerei Grützmacher residierte und das gesamte Dachgeschoss zu lichtdurchfluteten Ateliers umgebaut worden war. Bis zu 20 Mitarbeiter saßen an den Schreibtischen und zeichneten, kopierten, fotografierten und animierten noch leblose Bilder zu Filmen. Auch geschnitten wurde in der Bergmannstraße. Sinan Güngör war der Chefzeichner und der heimliche Star der Truppe, spätestens, seit der kleine Streifen über Otto, den Straßenhund, in der Sendung mit der Maus gelaufen war. Dem zuständigen Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk hatte der kleine Film über den Straßenköter so gut gefallen, dass er Elke Heidenreich fragte, ob sie dem Hund nicht ihre wunderbare Stimme leihen wolle.

Die Starautorin mit ihrem Bestseller über Kater Corleone sagte, so etwas sei eigentlich nichts für sie, aber der Redakteur meinte, sie solle sich den Streifen doch erst einmal ansehen. Zwei Tage später sagte sie zu: »Dieser Otto ist doch meine Inkarnation! Den mache ich!« Der kleine Streifen von Sinan Güngör wurde ein Erfolg, und als Friedrich Streich, der Zeichner der Maus aus der Sendung mit der Maus, mit dem Zeichnen aufhören wollte, fragte man unter anderem auch beim Schöpfer des Hundes Otto an, ob er außer Hunden und Eisbären nicht vielleicht auch Mäuse zeichnen könne. »Und so kam die Maus nach Kreuzberg!«

In die Bergmannstraße, an deren westlichem Ende bereits eine andere erfolgreiche Kindersendung produziert wurde: Löwenzahn. Jetzt waren ARD und ZDF mit den Flaggschiffen ihrer Kinderprogramme in unmittelbarer Nachbarschaft angesiedelt. Zwanzig Jahre lang war Kreuzberg so etwas wie das Zentrum der Comiczeichner und Trickfilmer. Sinan Güngör zeichnete unzählige Mäuse, lieferte Ideen zu den kleinen Streifen, schrieb hin und wieder sogar selbst das Storyboard und die Texte. Aber die berühmteste Figur aus der Bergmannstraße war Lars. Der Bär berührte nicht nur die Herzen der Kinder, sondern auch die der Juroren in aller Welt. 2003 wurde Lars sogar für den Emmy nominiert. »Wir hätten nie geglaubt, dass das so ein Erfolg wird. Aber der Lars brauchte überhaupt nichts zu machen, der brauchte nur dazustehen und zu gucken, und die Leute waren begeistert!«

In zwanzig Jahren sind in den Studios in der Bergmannstraße »sicher mehr als hundert Zeichentrickfilme entstanden. Aber die kreativen Zeiten in Kreuzberg sind vorbei.« Die Künstler der Achtziger und Neunziger wurden von subventionierten Startups aus ihren Fabriketagen vertrieben. Wo einst Kunstfertigkeit und Ideenreichtum zählten, rechnen und entwickeln heute Computer. »Es gibt noch ein paar Einzelkämpfer, die sich in kleinen Hinterhofwohnungen irgendwie durchschlagen, aber die großen Studios sind alle schon weg.«

Und die Zeichentrickfiguren haben das Laufen schon wieder verlernt. Ihre einst so geschmeidigen Bewegungen wirken heute holprig und unwirklich. Oft fehlt sogar der Humor. »Aber ohne Humor kann man keine Karikaturen zeichnen.« Und Humor kann man nicht lernen. Humor ist eine Lebensweise. Ein Charakterzug. Ebenso wie die Gemütlichkeit. Man kann so eine gemütliche Figur wie den Lars nicht zeichnen, wenn man nicht selbst gemütlich ist. »Ich bin ein gemütlicher Mensch«, sagt Sinan Güngör und zieht die Augenbrauen hoch. »ein sehr gemütlicher sogar.«

Sinan Güngör hat sein Glück gemacht in Kreuzberg, in der Bergmannstraße, in dem Atelier unterm Dach im Hinterhof der Nummer 68, über der Druckerei Grützmacher. Er hat genug verdient, um am Stadtrand ein Häuschen zu bauen für die Familie mit seiner Frau und den vier Kindern, mitten im idyllischen Lübars mit seinen Wiesen und Weiden und dem Kopfsteinpflaster und dem historischen Gasthaus. Doch jetzt sind die Kinder erwachsen und der Zeichner ist zurück in der Stadt, in einer ziemlich kleinen Wohnung. »Aber der Keller ist groß. Das ist das Wichtigste!«

Bei der Arbeit, 2012 (Foto:privat)

Er braucht ihn für sein Archiv, für die Entwürfe, Skizzen, fertigen Blätter. »Eine Trickfilmsekunde, das sind 24 oder 25 Bilder. Für jede sich bewegende Figur. Und wenn du in einer Szene eine Maus, einen Elefanten und auch noch die Ente hast, dann braucht man schon 75 Bilder pro Sekunde!«

Es ist viele Jahre her, dass Sinan Güngör seine Schulhefte bebilderte. Er hat mit dem Zeichnen nie aufgehört. Er hat immer noch einen Stift in der Tasche, immer ein Blatt zur Hand. »Meine Kinder glaubten ja damals, dass alle Väter immer nur am Schreibtisch sitzen und Mäuse und Eisbären zeichnen.«

Sinan Güngör denkt zurück und lächelt. Er lacht nicht laut, er lächelt in sich hinein. Es ist dieses Lächeln, das vielen so vertraut zu sein scheint. Es ähnelt dem Lächeln des kleinen Eisbären. •


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