Kreuzberger Chronik
April 2023 - Ausgabe 248

Kreuzberger
Layali Jafaa

Der Kreuzberger Himmel ist meine Heimat


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von Edith Siepmann

Titelfoto: Edith Siepmann

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Layali Jafaar »Der „Kreuzberger Himmel“ ist meine Heimat!« von Edith Siepmann

Wenn Layali ihre Augen schließt, kann sie die hellen, belebten Straßen von Bagdad sehen. Palmengesäumte Straßen voller Menschen und Auto-Gehupe, gelber Sandstaub aus der Wüste. Sie sieht sich als Kind inmitten ihrer alten Nachbarschaft. Hier kennen sich alle. Am Straßenrand sitzen alte Männer, trinken Tee bei 40 Grad Hitze und hören die Melodien der Oud. Sie erinnert sich an den Duft von weißem Jasmin und roten Rosen auf dem Schulweg und an die verführerischen Gerüche des Essens im Viertel. Ihre Mutter kocht Kubbah oder Dolmeh für die neunköpfige Familie. Die Nachbarn sind beim Essen oft dabei. Auf Festen kommt die ganze Verwandtschaft zu ihnen. Die Frauen helfen sich, es wird geredet und gelacht. Kochen ist keine Arbeit, Layali hat es von Kindesbeinen an als eine vergnügte, gemeinschaftliche Tätigkeit erlebt. »Immer waren viele Menschen da und wir erzählten und spielten.« Auch vom Vater, der als Küchenchef in der marokkanischen Botschaft arbeitet, lernt Layali Spezialitäten zu kochen, mit Gefühl und Sorgfalt.

Aber die schönen Erinnerungen sind nur ein Teil ihres Lebens in der alten Heimat Bagdad, der uralten 8,5 Millionen-Metropole am Tigris im mythischen Zweistromland. Seit Layali denken kann, wütet dort Krieg. Der erste Golfkrieg 1980 dauerte acht Jahre, der zweite begann 1990, da war sie neun Jahre alt. Das familiäre Leben war belastet durch Angst vor Bomben und die Sorge um den älteren Bruder, der zur Armee musste. »Es gab keinen Strom, kein Gas. Aber die Frauen dort sind stark, sie haben alles geschafft, alles selbst gemacht aus ganz wenig.«

Das Leben ging weiter und Layali zur Schule, aber nach der 10. Klasse musste sie aufhören. Ihre Familie hatte Angst um sie, wenn sie draußen war. Mit ihren hellen, blauen Augen fiel das schöne Mädchen zu sehr auf. Mit achtzehn heiratete sie Mohammed. »Er ist meine große Liebe!« Sieben Jahre lang waren sie verlobt. Drei Jahre später kommt Sohn Noor auf die Welt, kurz darauf begann der Irakkrieg. Die USA und einige westliche Staaten wollten Saddam Hussein los werden. Seitdem gibt es keine Ruhe mehr. Als die Amerikaner 2009 abziehen, beginnen Bürgerkriege und Terror, die bis heute das Leben im Irak bestimmen. Trotzdem hatte die junge Familie Jafaar eine Zeitlang ein frohes Leben. Bis eines Tages ihr Mann, der Elektroingenieur, den Befehl verweigert, die Stromzufuhr eines ganzen Bezirks abzuschalten. Man hatte in der Dunkelheit heimlich Waffen an Terrorgruppen liefern wollen. Dadurch aber wäre auch das Krankenhaus ohne Strom gewesen.

Dann geht alles ganz schnell. Mohammeds Arbeitsplatz wird bombardiert. Er überlebt mit schlimmen Verbrennungen. Layali kann mit ihm telefonieren. Um ihn zu quälen, werden seine Wunden im Krankenhaus mit Essig desinfiziert. »Mein Herz hat gebrannt.« Dann
zerstört eine Bombe das Haus, woraufhin ihr Schwiegervater dazu rät, mit dem Kind den Irak zu verlassen. Das Leben dort ist für sie zu gefährlich geworden. Layalis Familie wiederum will, dass sie bleibt. Aber Layali wünscht sich eine friedliche und hoffnungsvolle Zukunft für ihren Jungen. Ohne noch einmal ihre Familie zu sehen oder mit Mohammed zu sprechen, verlässt sie mit Kind und Schwester das Land. Die Flucht organisiert der Schwiegervater. Auf einem kleinen Boot mit 65 Menschen legen sie von der Türkei ab.

»Noor hatte große Angst, als er die hohen Wellen sah. Ich habe ihm unsere beiden Schwimmwesten übergezogen.« Nach fünf Stunden landeten sie in Griechenland. »Ich weiß nicht wo. Nach zwei Tagen sind wir in ein anderes Land, dann noch in ein anderes Land, dann Italien, dann Deutschland, dann Schweden, dann Finnland in ein kleines Dorf. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe. Ich hatte kein Herz mehr in dieser Zeit.« Sie hatte gehört, dass in Finnland die Familienzusammenführung einfacher sei als in Deutschland, doch nach sieben Monaten musste sie wieder nach Deutschland zurück. Das war im Mai 2016.

Layali ist ein offenherziger Mensch. Ihre hellen, graublauen Augen lächeln gerne und oft. Sie sieht ihr jetziges Leben positiv. »Aber manchmal denke ich, es war nur ein Traum und dann ist alles wie früher.« Wenn sie an Mutter, Vater, Geschwister denkt, fällt ein Schatten auf ihr Gesicht. »Wir telefonieren, aber sie fehlen mir sehr.« Acht Jahre hat sie sie nicht gesehen. »Am Anfang hatte ich gar keine Kraft mehr. Ich habe nur gemacht, was alle wollen. Deutsch lernen war so schwer. Mein Sohn konnte es schon nach drei Monaten.« Jetzt, wo ihr Mann endlich da ist, ist alles anders. Drei Jahre hatte sich Mohammed in einem irakischen Dorf versteckt, 2019 schaffte er es im zweiten Anlauf über Jordanien nach Berlin. Jetzt hat Layali wieder Kraft.

Layali hatte viel Glück in ihrem zweiten Leben. Schnell fand sie mit Barbara aus Steglitz eine Mentorin, die ihr geholfen hat, das Chaos des Anfangs zu überwinden. »Barbara hat mir positive Energie gegeben.« Und außer vielem anderen den Praktikumsplatz im Kreuzberger Himmel besorgt. »Barbara hat gesagt, erstmal arbeiten, dann kommt alles andere schon.«

An der Yorckstraße, im Kreuzberger Himmel zwischen katholischer Kirche und Kebap-Laden, hat sie eine neue Heimat gefunden. Im Restaurant, das vom Verein be an angel betrieben wird, arbeiten Menschen aus neun Nationen. Der Gewinn geht in die direkte Hilfe für Geflüchtete: Wohnungen, Arbeit, Transporte. Layali ist die einzige Frau dort und seit 2019 Küchenchefin in Vollzeit. »Meine Kollegen nennen mich Schwester. Sie sind meine Großfamilie.« Mit Layalis irakischem Essen hat sich der Kreuzberger Himmel zu einem bekannten Restaurant entwickelt, das aus der kleinen Küche bis zu 130 Essen täglich • serviert. Zum guten Kochen braucht es Konzentration und Ruhe, Spaß am Experimentieren und Liebe: »Ich muss meine Probleme draußen lassen.« In ihrem kürzlich erschienenen Kochbuch kann man die Rezepte nachlesen und -kochen. Es erhielt mit seinen Geschichten und Gerichten aus der alten Heimat den deutschen Kochbuchpreis in Bronze im Bereich »Orientalische Küche«. Nun will Layali die Prüfung als Köchin ablegen. »Deutsch habe ich geschafft. Jetzt muss ich Französisch lernen und in Mathe die Mengen der Zutaten berechnen. Aber das alles vergesse ich nach der Prüfung sofort wieder.«, lacht sie.

Layalis Kochkunst besteht nicht darin, grammweise Gewürze abzuwiegen. Sie improvisiert mit viel Gefühl und mit dem, was es gerade frisch zu kaufen gibt. »Beim Kochen und im Leben muss man aus dem, was da ist, das Beste machen.« Miteinander zu essen ist für sie ein Akt der Liebe zu ihren Mitmenschen. Sie spürt dabei eine Verbindung zur Familie, vor allem zur Mutter. Auch jetzt während des Ramadan kocht sie. »Und nach Sonnenuntergang feiern wir gemeinsam im Restaurant Iftar, das Fastenbrechen.«

Im Kreuzberger Himmel ist Platz für alle Konfessionen und Menschen, egal welcher Herkunft. Das gefällt ihr an Kreuzberg: »Ich habe hier keine Angst und keine Probleme. Auch nicht mit Kopftuch.« Durch das selbständige Leben und die Arbeit hat sie sich verändert und ist angstfreier geworden. »Dass ich soviel arbeite, daran musste sich mein Mann erst gewöhnen.« Ihre Rollen haben sich verändert. Er tut sich noch schwer mit der deutschen Sprache und hat als erfahrener Elektroingenieur bisher nur einfache Jobs bekommen. Noor aber arbeitet jetzt als zahnmedizinischer Assistent. Die Eltern sind stolz auf ihn. Wenn Layali spätabends nach Hause kommt, sitzen die drei noch bis Mitternacht zusammen und erzählen.

»Meine Familie ist mein Glück und mein großes Geschenk. Mohammed ist für mich Mann, Freund und Bruder.« Am Wochenende kochen sie für sie. Viele Freunde wie früher im Irak haben sie in Berlin nicht. Von den Nachbarn kennen sie nur wenige. Ihre freie Zeit verbringen sie meist zu dritt. Der Himmel über Berlin ist oft grau und die Menschen sind misstrauisch. »Als ich Nachbarn etwas von meinem Essen bringen wollte, musste ich ihnen erst erklären warum! Man muss in Deutschland alles erklären«, lacht sie. Niemand sagt »Hallo Layali«, wenn sie aus dem Haus geht, so wie damals im Irak. Es ist eben anonymer in Berlin. Aber sie ist der Stadt sehr dankbar: »Berlin bedeutet für mich Sicherheit und Schutz, Arbeit und eine Aufgabe. Ich liebe Berlin, so wie ich Bagdad liebe. Als wir Urlaub machten, sagte auch mein Mann nach zehn Tagen: ich vermisse Berlin!«

In Kreuzberg würde Layali fehlen. Mit ihrem Lächeln, das mal froh, mal melancholisch, optimistisch, traurig oder zufrieden sein kann, bringt sie das Aroma von Loomi und Zumach, Rosen und Liebe nach Kreuzberg, und drei Prisen Tapferkeit. •

Mit Khan, Morteza und Ismaeel -Foto: Iram

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