Kreuzberger Chronik
September 2022 - Ausgabe 242

Kreuzberger
Özkan Akyol




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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Der neue Gast am runden Kaffeehaustisch freut sich über das große Stück Schokoladentorte auf seinem Teller. Kaum haben die ersten Kuchenkrümel die Lippen berührt und die Geschmackssensoren der Zunge das süße Aroma wahrgenommen, da kommt alles abrupt zum Stillstand: Kein Kauen mehr, kein Lächeln, stattdessen ziehen sich die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Der Blick des Kuchenfreundes fällt auf eine Reihe von Bildern an der Wand des Nebenzimmers. Özcan Akyol hat seinen Gast genau beobachtet. Auch er zieht jetzt die Augenbrauen zusammen.

Dann endlich kommt wieder Bewegung in den erstarrten Gast, die Schokotorte rutscht ihrer Bestimmung entgegen und der Gast sagt: »Ist das da drüben nicht Maradona?«

Die Augenbrauen des Wirts ziehen sich noch ein bisschen enger zusammen. Dann sagt er: »Das ist nicht Maradonna, das ist Gott! Eine Lichtgestalt. Ein Fußballgott. Der Größte. «

»Natürlich!«, sagt der Gast.

»Ich kann Ihnen das erklären: Ich bin Berliner. Meine Eltern kommen aus der Türkei. Ich hatte fünf Geschwister. Wir hatten zu essen und eine große Wohnung, wir konnten gut leben. Aber wir waren Fremde. Wir mussten erst mal ankommen. Vor allem wir Kinder. Wir mussten uns hocharbeiten. Und da war Maradona unser Vorbild...«

Maradona war allgegenwärtig. Wenn sie nach der Schule in den Hinterhöfen bolzten, die Kinder der Kurden, der Türken, der Italiener, der Deutschen, der Araber, dann hatten alle nur ein Idol: Maradona!

Özcan Akyol schwärmt von Europameisterschaften, Weltmeisterschaften. Wenn er erzählt, wie Maradona am Ball ist, beim Spiel gegen Spanien oder Italien, in der 85. oder in der 13. Minute, vor 22 oder vor 38 Jahren, dann ist Maradona so nah und lebendig, als wäre das alles gerade erst passiert. »Maradona ist eben unsterblich! Ein Fußballgott eben!«

Sechs Porträts hat Akyol in seiner guten Stube aufgehängt, sechs mal Diego Maradona. Weil der ganz unten anfing und ganz oben ankam. Weil man Lichtgestalten braucht in den Hinterhöfen. Leute, die konsequent bleiben. Immer sie selbst sind. »Und egal, was die Maradona alles anhängten, Drogengeschichten, Frauengeschichten, Finanzskandale, lauter billige Stories für billige Boulevardblätter: Er stand immer auf der richtigen Seite, immer bei den Underdogs, immer bei den Armen. Maradona ist viel mehr als nur ein Fußballer.«

Akyol erzählt vom Finale in Rom, Deutschland gegen Argentinien. Als die argentinische Nationalhymne ertönt, beginnt ein Pfeifkonzert, nur für Maradona! Obwohl Maradona zwei Jahre zuvor der Star der italienischen Liga war. Özcan Akyol holt zu einem leidenschaftlichen Plädoyer aus: »Der kam gerade von Barcelona, dem erfolgreichsten Club der Welt, und ging zu Neapel, zu den Erfolglosen. Und dann wurde er mit Neapel zwei Mal italienischer Meister und gewann 1988 sogar noch den Uefa Cup. Er hat den verspotteten Süditalienern ihre Würde zurückgegeben! Und dann haben sie ihn im Finale ausgepfiffen, nur weil er mit Argentinien im Halbfinale Italien rausgeworfen hatte. Da rief er ihnen vor den Augen von Millionen von Fernsehzuschauern zu: Ihr Hurensöhne!«

Wenn es um Maradona geht, geht es nicht um Fußball oder Geld. »Der hat doch nie an Geld gedacht.« Dem ging es um das, was wirklich zählt: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit. Bei Maradona wird der Wirt zum Anwalt. »Der hat sich nicht kaufen lassen und der ist auch nie zum Profi geworden. Der war immer ein Kind, immer einer aus dem Armenviertel von Buenos Aires.«


Mit dem Bruder vor der türkischen Fototapete











Özcan Akyol steht in der Mitte seines Lebens. Er ist jetzt fünfzig Jahre alt. Aber die Kindheit ist noch nah. Wenn er von den Siebzigern in Kreuzberg erzählt, von der Monumentenstraße, dann hört sich auch das so an, als wäre es gerade erst passiert: Das Fußballspielen in den Hinterhöfen, die Turniere, »wo ich mit zwei verschiedenen Schuhen auf dem Platz stand, weil wir Kinder für so was nie Geld hatten. Wir Kinder haben vom Wirschaftswunder nichts abbekommen, weil unsere Eltern immer nur am Sparen waren. Wir Kinder waren immer nur die Zuschauer. Wir standen da und sahen zu, während unsere Schulkameraden auf dem Rummel Autoscooter fuhren. Wir sahen zu, wenn sie sich eine Kinderschokolade nach der anderen reinschoben. Wir waren zum Zuschauen verdammt!« Deshalb schlichen die Kinder der Einwanderer abends um sechs um die Ecke zum Bäcker in der Katzbachstraße, um sich ihren »Krümelkuchen« zu holen. Die Bäckerin packte dann Kuchenreste und Krümel in ein Tütchen für die Lümmel.

»Als uns mein Vater dabei erwischte, sagte er zur Bäckersfrau, seine Kinder hätten so etwas nicht nötig. Er war gekränkt und kaufte uns sechs Kuchen! Aber nur ein Mal! Dann musste er wieder sparen. Heute haben meine Eltern ein Haus in Anatolien und eine Eigentumswohnung in Berlin, verbringen ein halbes Jahr hier, ein halbes dort.« Man konnte sich noch etwas erarbeiten damals, wenn man fleißig war. »Aber eine Kindheit von Migrantenkindern ist meistens traurig.« Viel Zeit hatten die Eltern nicht für die Kinder, Vater und Mutter waren ständig in der Fabrik.

Auch Akyol ist fleißig. Jeden Morgen um halb fünf ist er im Café, gemeinsam mit seiner Frau, »der guten Seele des Cafés«. Sie haben einen langen Tag voller Arbeit vor sich, genau wie einst die Eltern. Sie kochen, putzen, bereiten Frühstück und Mittagstische, backen Kuchen. Krümelkuchen gibt es nicht mehr. Aber Armut gibt es noch immer. Auch auf der Bergmannstraße. »Das war einmal das blühende Leben, Gemüsehändler, Trödler, Cafés, interessante Leute. Die Straße hatte Charakter.« Heute ist sie voller Obdachloser. »Ich kann da nicht wegschauen. Zuschauen hat mein Leben geprägt. Bis heute!«

Der Wirt vom Café Saz sitzt im Hinterzimmer und isst zu Mittag. Selbstgerollte Teigtaschen. »Wir machen nur, was uns schmeckt.« Der Mittagstisch ist beliebt, da sitzen Reiche und Arme, Braune und Weiße, Berühmte und Unbekannte, »Müllmänner, Akademiker, Alkoholiker, Schriftsteller, lauter interessante Typen.« Ein Café lebt nicht vom Kaffee, es lebt von den Gästen. Viele Gäste sind die Nachbarn. Sie kommen jeden Tag und werfen jeden Tag etwas in die Trinkgeldbox. »Wofür ist es denn diesmal?«, fragen sie. »Für eine junge Frau, die in Syrien schwer verletzt wurde.« Ein Jahr lang haben die Gäste im Cafe Saz die Frau unterstützt, jetzt ist sie in der Schweiz. Oder sie unterstützen Civilcourage Pirma. In Pirma hat die AFD zu viele Stimmen bekommen. Dagegen muss man etwas unternehmen.

Akyol kann eben nicht wegschauen. Und er muss etwas sagen dazu. »Ich habe schon immer geredet, wie mir der Schnabel gewachsen ist.« Genau wie Maradona. Wenn Maradona nicht gewesen wäre, und dieser Petrocelli aus der amerikanischen Anwaltsserie im Fernsehen, vielleicht hätte er nie angefangen mit dem Jurastudium. »Ich war schon vor dem Staatsexamen, hatte alle Scheine zusammen, der Professor kam und fragte, warum ich mich nicht anmelden würde, jetzt hätte ich so viele Jahre investiert. Aber ich konnte nicht. Ich hatte eine Frau, meine erste Tochter war geboren. Ich musste arbeiten.«


Mit der Tochter vor dem Café












Und dann kam eines Tages Celal und bot ihm sein Frühstückscafé in der Kreuzbergstraße an. »Der hatte schon ganz nette Gäste hier. Leute mit Charakter.« Also fingen sie an zu backen, zu kochen, legten Tageszeitungen aus und stellten Bücher ins Regal. Den Outlaw von Simenon zum Beispiel. Özcan Akyol steht hinter der Theke, schaut den Gästen zu, hört zu, schaltet sich ein. Ein bisschen ist es wie in den Kaffeehäusern Anatoliens. Dabei ist er nie dort gewesen, im Dorf der Eltern. »Ich bin eher so´n Berliner! Ein Berliner Kurde vielleicht.«

Özcan Akyol steht in der Mitte seines Lebens. Die Töchter sind groß, bald wird das Elternpaar nur noch für die Gäste kochen. Vielleicht ist es dann Zeit, etwas neues anzufangen. Obwohl Akyol eigentlich seinen Platz gefunden hat im Café Saz. Es wird ihm schwer fallen, den aufzugeben, auch wenn es so viel Arbeit ist. »Aber so was kann man nicht ewig machen.« Wenn er das sagt, schauen die Gäste ungläubig: Was willst du machen? Wovon leben? - »Aber ich denke nicht ans Geld. Genau wie Maradona. Ich werde erst mal zuschauen. Zuschauen und träumen. Ich bin ein guter Träumer. Das habe ich als Kind gelernt.« Damals waren es noch kleine Träume von großen Fußballstadien, Schokoladen, Autoscootern. Jetzt werden es andere sein.








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