Kreuzberger Chronik
September 2022 - Ausgabe 242

Geschichten & Geschichte

Die Ballonfahrerin


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von Sybille Matuschek

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Warum die Feministinnen Wilhelmine Reichard nicht zu einer ihrer Ikonen gemacht haben, ist eines der vielen ungelösten Rätsel in der langen Geschichte der Emanzipation der Frau. Vielleicht störte es, dass Johanne Wilhelmine Siegmundine ihrem Mann stets zu Diensten war und ihm nebenbei noch ganze acht Kinder schenkte! Vielleicht gefiel ihnen auch nicht, dass diese Frau Ruhm und Erfolg mit ihrem Mann teilte, obwohl doch sie es war, die jedes Mal Kopf und Kragen riskierte, während der angetraute Physikprofessor nichts zu befürchten hatte.

1811 immerhin war der Name Reichard Inbegriff der Emanzipation. Ganz Berlin hatte sich am 16. April versammelt, um ihr zuzujubeln. Sogar die königliche Familie – sie hatte es nicht sonderlich weit zum großen Garten der Tierarzneischule Unter den Linden - hatte sich eingefunden, ihren unaufhaltsamen Aufstieg zu feiern. Die gesamte Friedrichstraße wurde für den Verkehr gesperrt und die Spenersche Zeitung hielt »5 Uhr 23« als jenen historischen Augenblick fest, an dem die erste deutsche Frau, adrett gekleidet in weißem Spitzenkragen, mit Straußenfedern auf dem Hut in einer aus Weiden geflochtenen und mit Blumen dekorierten Gondolfiere, allein und ohne Mann an ihrer Seite, die Schwerkraft überwand und der Erde entschwebte.

Der Ballon war so prall gefüllt mit Wasserstoff, dass er kaum noch am Boden zu halten gewesen war. Auch die junge Luftschifferin konnte es nicht erwarten, endlich zu fliegen. Zu lange - fünf Jahre investierte das Ehepaar in den Bau des Ballons - hatte sie auf diesen Augenblick warten müssen. Jetzt konnte sie nichts mehr halten, auch das miserable Aprilwetter nicht. Ihr blieb gerade noch Zeit, »eine Handvoll bunter Fähnchen in den Wind zu schleudern, da hatte sie der feuchtkalte Nebel auch schon verschluckt.«

Die erste alleinreisende deutsche Ballonfahrerin flog über die Friedrichstraße hinweg nach Süden, ließ den Kreuzberg und die jubelnden Kreuzberger schnell hinter sich und hatte schon bald eine Höhe von 16.000 Fuß erreicht. Das Thermometer zeigte 8 Grad unter Null, aber das Schlimmste für die 23-Jährige seien »der Hunger und das Ohrenbrausen« gewesen. Doch was wiegen diese kleinen Unannehmlichkeiten gegen das überwältigende Gefühl, »im reinen Äther zu schiffen!«

Über den Wolken hatte Deutschlands erste Aeronautin den Sichtkontakt zur heimatlichen Erde und damit auch die Orientierung komplett verloren. Nach eineinhalb Stunden vernahm sie nicht all zu tief unter sich und nicht ohne Erleichterung das Gebimmel einer Schafherde. Als sie die Nebelwand durchbrach und die Erde sie wiedersah, befand sie sich 30 Kilometer südlich von Berlin in der Nähe von Trebbin. Sie warf den Anker, doch der Ballon hing noch immer in der Luft, der Schäfer musste herbeieilen, um die junge Frau am Strick auf Mutter Erde zurückzuholen. Die Madame wurde zum Abendmahl geladen, übernachtete auf einem vornehmen Landsitz und ließ sich am nächsten Morgen mit der Kutsche zurück zu ihrem Professor bringen.

Doch Leidenschaft kennt keine Grenzen. Schon wenige Wochen später steigt sie abermals auf, diesmal begleitet von Blitz und Donner. Da ihr das Berliner Wetter nicht zugeneigt zu sein scheint, versucht sie es am 30. September des gleichen Jahres in Dresden. Auch hier ist ihr der Wettergott nicht wohl gesonnen, dennoch steigt die Gondel höher und höher, und Johanne Wilhelmine Siegmundine, von den Berlinern ungeachtet ihrer adligen Herkunft schlicht »Minna« genannt, kommt gar nicht auf den Gedanken, sich zu sorgen und dem unendlichen Steigen Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil, sie beginnt zu dichten: Wohlan, aus einem grünen Kranz von Bäumen / Erhebe dich, mein leichtbeschwingter Kahn / hinauf ins Reich, das keine Grenzen säumen / die Erd entflieht, durch Wolken geht die Bahn…«

Als sie die schwindelerregende Flughöhe von 24.000 Fuß – fast 8000 Meter - erreicht hat und die Luft zu dünn wird zum Atmen, wird sie ohnmächtig und trudelt, etwa 50 Kilometer vom Startplatz entfernt, in die Tiefe. Gott, schon nicht mehr allzuweit entfernt, muss sie gesehen und seine schützende Hand unter die fliegende Minna gehalten haben: Sie landete in einem dichten Gebüsch und überlebte den Absturz aus 8000 Metern beinahe unverletzt. Ein Gedenkstein erinnert noch heute an das kleine Wunder.


Auch der Absturz hält den femininen Luftikus nicht auf. Noch 16 Mal steigt sie in den Himmel auf, startet in Hamburg, Lübeck, Bremen, Brüssel, Prag und im Wiener Prater. Die Menschen stehen Schlange, die Polizei muss die Straßen sperren, Tribünen werden errichtet, Eintrittsgelder verlangt, sogar Passagiere dürfen gegen entsprechendes Entgeld mit an Bord. Und sie bricht Rekorde. Sie fliegt am höchsten, am weitesten und am längsten. Ihr letzter Flug findet anlässlich des 10. Jubiläums des Münchner Oktoberfestes statt, und 1978 landet das Bild ihres Ballons über der bayerischen Hauptstadt auf einer Briefmarke. Ihr Professor dagegen blieb stets am Boden, hielt Vorträge über Luftschiffe und errichtete von den ersparten Eintrittsgeldern eine Chemiefabrik, von der das Paar scheinbar glücklich bis zum Ende seiner Tage leben konnte. Was echten Feministinnen bis heute missfällt. •

Literatur: Horst Wagner, Berlinische Monatsschrift, Luisenstadt, April 1993

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