Kreuzberger Chronik
September 2022 - Ausgabe 242

Reportagen, Gespräche, Interviews

Probieren wirs aus


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von Michael Unfried

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Seit zwei Jahren kämpft ein kleiner Verein, der sein Hauptquartier in der Kreuzberger Gneisenaustraße aufgeschlagen hat, um ein menschenwürdiges Leben für jeden.


























Werbung ist heute digital. Sie belästigt uns zuhause auf dem Fernsehbildschirm, während der Arbeit am Computer, Tag und Nacht und überall auf dem Handy. Wenn Menschen, die bereits mit einem Smartphone in der Kita-Tasche aufgewachsen sind, sich ein Sofa oder einen Tisch kaufen möchten, schauen sie auf einen Bildschirm, nicht in Zeitschriften und nicht in Schaufenster. Kein noch so großes, noch so geschicktes und gut platziertes Plakat könnte ihre Aufmerksamkeit vom Handy ablenken und auf sich ziehen.

Vorbei scheinen die Jahre, als kurz nach dem Fall der Mauer ganz Berlin die großformatigen Werbeposter der Zigarettenmarke West beäugte, auf denen vornehmlich den Ostberlinern ein Außerirdischer erschien, der eine Zigarette reichte und sagte: »Test the West!« Vergessen auch die junge Dame, die Monate lang Paris begeisterte, indem sie alle zwei Wochen eines ihrer Kleidungsstücke ablegte. Kein einziger Buchstabe, kein abgebildetes Produkt verriet, worum es ging, es gab nichts als das Bild der sich langsam entblößenden Frau. Ganz Paris rätselte. Als die letzte Hülle fallen sollte, erschien der Name einer Werbeagentur! Sie konnte sich fortan vor Aufträgen nicht retten.

Doch es gibt auch heute noch Plakate an Laternenpfählen, die ins Auge stechen. Nicht nur die sündhaft teuren, aus Steuergeldern finanzierten Plakataktionen mit den männlichen Glatzköpfen und weiblichen Goldschöpfen in den Wahljahren. Selbst da gibt es hin und wieder kurzweilige Ausreißer aus der Langeweile, so wie letztlich wieder Gregor Gysi, der vom Plakat herunter die Passanten ebenso freundlich wie höflich ansprach: »Entschluldigen Sie, aber ich brauche wieder einmal Ihre Stimme!«

Seit Mai nun fallen - verstärkt in Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg - rosafarbene Plakate im A1-Format auf. 8000 dieser kleinen Hingucker wurden in der Stadt verteilt. Sie stehen für keine Partei und für keine Firma, für kein Produkt und für keine staatliche Gesundheitskampagne. Sie stehen für eine Idee. Sie fordern mit wenigen und fettgedruckten, auch für den vorbeirasenden Autofahrer noch aus dem Augenwinkel erkennbaren und sofort zu verstehenden Worten »Mehr Zeit für Oma«, »Mehr Glücksgefühle« oder »Mehr Sex«. Und sie hätten stattdessen gerne »Weniger Bürokratie« und »Weniger Existenzangst«. Darunter heißt es, wiederum fett gedruckt und schon von Ferne zu verstehen: »Probieren wir´s aus!«

Es geht also um nichts Geringeres als um ein glückliches Leben.Voraussetzung dafür, so versteht erst der Passant, der nah genug herantritt an die rosafarbenen Plakate, um auch das Kleingedruckte zu lesen: Ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das ist eine uralte Idee, die schon in den Siebzigerjahren von Soziologen und Philosophen in die Debatte geworfen wurde, und die nun endlich auch in den politischen Parteien geführt wird. Doch in die Parteiprogramme und auf die dazugehörigen Wahlplakate hat die Idee es noch nicht geschafft. Weder die Linken noch die Grünen, erst recht nicht CDU oder SPD, haben die Plakate aufgehängt. Es ist ein kleiner Verein von etwa 20 Bürgern, der sich sagt, dass inzwischen genug geredet wurde. Dass es an der Zeit ist, etwas zu tun.

»Probieren wir es aus!«, sagt Vilma-Lou Sinn, »das soll nicht heißen: Wir können es ja mal ausprobieren. Im Gegenteil, das heißt: Jetzt reichts! Das heißt: Jetzt aber los! Das heißt: Jetzt packen wirs endlich an! Wir haben lange genug darüber gequatscht.« Vilma, die am Anfang selbst noch Zweifel an der Sache hatte, ist heute eine der glühendesten Vertreterinnen dieser Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen. »Hartz IV« sagt sie »ist voller Diskriminierungen. Das schließt so viel aus. Ein bedingungsloses Grundeinkommen dagegen eröffnet völlig neue Möglichkeiten.« Wenn jeder, ausnahmslos jeder, ein staatlich zugesichertes Grundeinkommen erhielte und der Leistungsdruck wegfiele, dann falle es zum Beispiel jemandem, der nach zwanzig Jahren Bürojob das Hamsterrad nicht mehr aushält und da rauswill, leichter, auszusteigen. Die Existenzangst würde wegfallen.

Dazugestoßen ist Vilma über eine Stellenanzeige. Der Verein suchte eine Projektmanagerin. Anders als beim Volksentscheid gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes, der aus Bürgerinnen und Bürgern bestand, die sich in ihrer Freizeit trafen und für die Sache engagierten, arbeitet der Verein mit bezahlten Mitarbeitern. Es begann 2019 mit einer kleinen Gruppe um die Gründerinnen Joy Panader und Laura Brämswig in einer Wohnung in Neukölln. Sie gründeten die Expedition Grundeinkommen, suchten nach Sponsoren für den Verein und die Idee und eröffneten ein Büro in der Karl-Marx-Straße. Auch wenn der alte Philosoph greifbar nah war und einiges zum Thema zu sagen gehabt hätte: »Karl Marx kam bei den Diskussionen nie vor!«

Seit 2020 hat die Gruppe ihr Hauptquartier in der Kreuzberger Gneisenaustraße, nur ein paar hundert Meter von Vilmas Wohnung entfernt. Der kleine Kreis ist inzwischen groß geworden, hinzu sind viele ehrenamtliche Mitarbeiter gekommen. »Es gibt keine Hierarchien, jeder arbeitet selbstverantwortlich, und wir arbeiten für eine gute Sache.« Jeden Morgen trifft man sich zum Meeting, in dem die Aufgaben verteilt werden, dann schwärmen sie aus wie die Bienen, um die rettende Idee unters Volk zu bringen und um Unterschriften zu sammeln. Das ist »unser daily business«. Für Grundsatzdiskussionen ist jetzt keine Zeit mehr. Bis zum 5. September brauchen sie 240.000 Unterschriften! Anfang August hatten erst 100.000 Bürger unterschrieben.

Die Berliner zögern. Obwohl es noch gar nicht um die Revolution geht, nicht um einen schwerwiegenden Eingriff ins System, sondern nur um ein befristetes Pilotprojekt. Um eine Expedition zum Grundeinkommen, eine Forschungsreise in die Zukunft, die Entdeckung von Neuland. Es geht um das Austesten einer Idee und einen auf ein Jahr befristeten wissenschaftlichen Modellversuch, an dem 3500 Berliner teilnehmen und beweisen sollen, dass dieses Modell das richtige Mittel ist, um das Leben besser zu gestalten. Aber auch das wurde im Berliner Abgeordnetenhaus einstimmig von allen Parteien abgelehnt. Das einzige Mittel, das nun zur Verfügung steht, um die Idee Wirklichkeit werden zu lassen, ist eine direkte Entscheidung des Volkes durch eine Wahl: den Volksentscheid. Die erste Hürde auf dem Weg dahin, das Einbringen des Volksbegehrens, hat die Initiative mit 34.000 Unterschriften bereits übersprungen. Jetzt geht es darum, aus dem Begehren eine Forderung werden zu lassen.

Ein Volksentscheidungsverfahren wäre ein »riesen Erfolg, denn anders als beim Tempelhofer Feld, zu dem jeder einen persönlichen Bezug hat, ist das bedingungslose Grundeinkommen für die meisten noch etwas Abstraktes, nichts Greifbares«, sagt die Projektmanagerin. Eine gute, aber noch ziemlich unbekannte Idee, die in allen politischen Partein kontrovers diskutiert wird.

Sogar in der Linken, jener Partei, die Hartz IV am deutlichsten kritisierte. Katja Kipping unterstützt die Idee, ihr Vorreiter jedoch, Gregor Gysi, kann sich nicht dafür begeistern, auch wenn er den Verteidigern dieser Idee viel Sympathien entgegenbringt und »ihnen gerne zuhört. Und wissen Sie auch, warum? Weil sie leidenschaftlich sind. Es gibt ja in Deutschland das Missverständnis, dass man nur seriös ist, wenn man langweilig ist.«

Gysi ist für ein staatlich garantiertes Grundeinkommen, allerdings kein bedingungsloses. Sonst erhielte das Geld jeder, »also auch ich. Und das finde ich vollkommen überflüssig, solange ich die Diäten des Bundestags kassiere.« Gysi möchte niemanden unterstützen, der es nicht wirklich braucht. Er möchte auch nicht die, die arbeiten können, zum Sitzenbleiben animieren. »Wir haben keinen Zwang zur Arbeit, und natürlich darf auch jemand faul sein und keine Lust haben... « An dieser Stelle kommt allerdings selbst ein umsichtiger Denker und Redner wie Gregor Gysi tatsächlich ein bisschen ins Stottern.

Kollegen der CDU oder FDP oder der lautstarken politischen Grünschnäbel von noch weiter rechts haben damit weniger Probleme. Sie zitieren in Windeseile die Faulenzer und Schmarotzer der Siebzigerjahre wieder herbei, die das System ausnutzen. Und verweisen auf die Schweiz, wo die Idee schon 2016 in einem Volksentscheid scheiterte.

Das größte Problem sehen die Kritiker in der Verteilung des Geldes an ausnahmslos jeden. Das wäre ungerecht und vor allem teuer. »Aber das ist ein Missverständnis. Nach unseren Plänen werden Einkommen und Grundeinkommen miteinander verrechnet.« Wer genug zum Leben verdient, erhält unter dem Strich nichts oder zumindest weniger. »Unser Grundeinkommen könnte für den Staat noch günstiger sein als Hartz IV.«

Weil der rettende Gedanke auf vielseitigen Widerstand trifft, kamen die Expeditionsteilnehmer auf die Idee mit der Plakataktion. Die Plakate sind keine hübsche Idee von Hobbytextern, sondern das Ergebnis vieler Sitzungen, das eine Werbeagentur mit dem einprägsamen Namen Auf sie mit Gebrüll gemeinsam mit Vilma und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern ausgebrütet haben. Die kreative Agentur war bereits mit der Aktion Deutsche Wohnen & Co enteignen! erfolgreich. Auch zum Thema Bedingungsloses Grundeinkommen hatten sie am Ende über 100 einprägsame Sätze auf der Liste. Nur acht davon kamen aufs Plakat. Als letzter schaffte es gerade noch: »Mehr Sex!«

Die auf dem Plakat geäußerten Sehnsüchte und Wünsche sind keine berlinspezifischen. Es sind bundesweite Sehnsüchte, allgemein menschliche Lebensziele, die hier formuliert werden. Es geht um mehr Zeit, mehr Sicherheit, mehr Privatleben und weniger Überlebenskampf. »Wenn wir in Berlin erfolgreich sind, dann wird das weitergehen. Berlin hat eine Leuchtturmfunktion, Berlin strahlt aus. Nicht nur deutschlandweit, sondern weltweit!« sagt Vilma.
70 Millionen würde die Expedition kosten. »Aber was sind schon 70 Millionen für einen guten Zweck gegen 100 Milliarden für die Aufstockung des bundesdeutschen Waffenarsenals!«, murmelt ein Ehrenamtlicher, der wohl doch seinen Marx gelesen hat. •

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