Kreuzberger Chronik
November 2022 - Ausgabe 244

Strassen, Häuser, Höfe

Die Köthener Straße 27


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von Erwin Tichatzek

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Hier entstand » Die Zukunft «

Die Köthener Straße. Eines von vielen Opfern von Fanatismus und Kriegslust. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges war sie ein Schutthaufen. Die Jahre danach verbrachte sie im tiefen Schatten der Mauer, heute ist sie eine bedeutungslose Straße in einem der traurigsten Viertel im Westen Kreuzbergs, Brennpunkt sozialer Differenzen und Mittelpunkt bluttriefender Schlagzeilen in der BZ. Sie hat sich nie vom Krieg erholt.

Am Anfang war die Straße, die nach den Plänen Lennés seit 1832 zur Packstation des Anhalter-Bahnhofs führte, durchaus prominent. Hier befand sich der Kammermusiksaal, hier sprach Tucholsky, hier wohnten vornehme Leute, unter ihnen Dichter und Denker. So auch einer der wichtigsten Wegbereiter jener Ideologie, die später den Untergang der Straße einleitete: Im Haus mit der Nummer 36 befand sich der Wohnsitz des Philosophen Paul de Lagarde, der schon damals von einer deutschen Volksgemeinschaft und einer »germanisch christlichen antisemitischen Kirche« träumte. De Lagarde, so Kurt Wernicke in der Berlinischen Monatsschrift, hatte »den ganzen verderblichen Unsinn von Blut, Boden und Rasse« schon ausformuliert, sodass die Nazi-Ideologen später »nur noch bei ihm abzuschreiben brauchten.«

#IMG/2373/L/0Wenige Meter entfernt zog in die Nummer 27 einer seiner Gegenspieler ein: Maximilian Harden, Jude, Kosmopolit und Herausgeber der »Zukunft«. 30 Jahre lang erschien jede Woche ein Exemplar der widerspenstigen und gefürchteten Wochenschrift, zu deren prominenten Autoren auch Walther Rathenau gehörte. Der Herausgeber Maximilian Harden war ein Querdenker, der sich von keiner Ideologie blenden und von keinem Verein vereinnahmen ließ – am wenigsten von einem politischen. Er war ein wirklicher Intellektueller, der stets zum Umdenken bereit war und nicht davor zurückscheute, seine Meinung zu revidieren. Das verschaffte ihm Feinde in allen Lagern. Stefan Zweig schrieb: »Er stürzte Minister, brachte die Eulenburg-Affäre zur Explosion, ließ das kaiserliche Palais jede Woche vor anderen Enthüllungen zittern.« Kaiser Wilhelm II persönlich adelte den ständigen Nörgler als »Giftmolch aus dem Pfuhl der Hölle.«

Geboren als Felix Ernst Wittkowski und Sohn eines jüdischen Seidenhändlers, der ihn in eine Kaufmannslehre zwängt, reißt er von zuhause aus »mit zwei, drei Thalern in der Tasche, ohne warmen Rock.« Er landet bei einer Theatergruppe, steigt als Max Harden auf die Bühne, tingelt durchs Land, heiratet eine Schauspielerin, zieht mit ihr in die Köthener Straße und beginnt zu schreiben. Schon bald tauchen seine spitzen Kommentare im Berliner Tageblatt, der Neuen Züricher oder der St. Petersburger Zeitung auf. Er schreibt über das Leben in der Stadt, »die am Strom der Intelligenz liegt, der in das offene Meer der Dummheit sich ergießt«. Dem Theater bleibt er als ein gefürchteter Kritiker treu, der sich nicht scheut, Gerhard Hauptmanns Drama der »Ratten« ein »Dutzendmelodram« zu nennen. Außerdem gründet er gemeinsam mit Theodor Wolff und anderen Intellektuellen die »Freie Bühne«, um die Zensur des Staates zu umgehen. Die Freie Bühne hatte das Recht, in geschlossenen Veranstaltungen an verschiedenen Theatern auch jene Stücke aufzuführen, die offiziell verboten waren. Aus der Freien Bühne wurde die Freie Volksbühne. Den Namen gibt es noch heute.

Noch unbeliebter als seine Theaterkritiken sind seine politischen Kommentare. Mehr als vierzig von ihnen werden beanstandet, drei mal wird der »Giftmolch« wegen Majestätsbeleidigung angeklagt, 13 Monate verbringt er in Festungshaft, die letzten wegen der Auslegung einer Rede des Kaisers anlässlich der Verabschiedung deutscher Soldaten auf den Weg nach China. Harden schreibt, dass der Kaiser dazu aufgefordert habe, »keine Gefangenen zu machen« und »jeden überwältigten Feind zu töten.« Unnötiges Töten aber galt schon damals auch im Krieg als unsittlich.

Obwohl im Grunde ein Pazifist, lässt sich Harden 1914 vom ersten großen deutschen Kriegsgeheule anstecken und schreibt: »Wir müssen siegen!« Doch schon nach wenigen Wochen ändert er sein Urteil, wird zum Kriegsgegner und spricht vom überwältigenden »Friedenswillen der Völker«, woraufhin Die Zukunft verboten wird. Verstummen kann der Giftmolch trotzdem nicht, am 22. April 1916 schreibt er: »Lasst endlich wieder Vernunft zu Wort kommen« und kritisiert die deutsche »Feindverteufelung.«

Nach dem Ende des Krieges zieht Harden an den Stadtrand.Walther Rathenau, sein ehemaliger Mitarbeiter, wird sein Nachbar. Am 24. Juni 1922 wird Rathenau beim Verlassen seiner Wohnung von einem Rechtsradikalen erschossen, 9 Tage später wird Harden von der Organisation Consul in der Nähe seines Hauses mit einer Eisenstange niedergeschlagen. Er überlebt schwer verletzt und stirbt vier Jahre später in einem Schweizer Kurort. Tucholsky schreibt: »Mit ihm ist ein Typus dahingegangen, der für die nächsten 50 Jahre kaum wiederkehren wird: ein Einzelgänger von Format und Einfluss.«

Die Köthener Straße ist eines von vielen Opfern des Krieges. Der Glanz vergangener Zeiten ist erloschen, obwohl in den 70ern David Bowie, U2 und Depeche Mode das im ehemaligen Kammermusiksaal eingerichtete Hansa-Studio beehrten und von »The big hall by the wall« schwärmten. Auch dieses letzte Aufglimmen von Kultur in der Köthener Straße gehört längst der Vergangenheit an. •


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