Kreuzberger Chronik
November 2022 - Ausgabe 244

Kreuzberger
Hayiriye Fadin

Seit 40 Jahren bin ich Frisör und Psychologe in einem


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von Edith Siepmann

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Heidi blinzelt in die Herbstsonne. Mit Zigarette und Kaffeetasse sitzt sie auf der Holzbank vor ihrem Salon. Blätter tänzeln über den breiten Bürgersteig am Südstern. Gleich erscheint die nächste Kundin zum Termin. Heidi beobachtet die Jogger und Radfahrer und die polnischen Kirchgänger, die zur Hasenheide und zur Johannes-Basilika streben. »Ich liebe es hier, der Laden ist meine Heimat.« Sie lächelt zufrieden. Heidi mag die Nachbarschaft. Vielleicht hat sie deswegen so viele Stammkunden, die sich nur von ihr das Haupthaar waschen, kürzen, färben, legen, toupieren lassen wollen. Und die ihre Geduld und ihren Rat schätzen. Denn Heidi hat eine Menge Lebenserfahrung, obwohl sich ihr Leben großteils auf gerade mal 34 Quadratmetern abspielt. Doch da gehen Menschen jeden Alters »quer durch die Gesellschaft« ein und aus und hinterlassen ein Mosaik von Erzählungen, das die soziale Lage in Kiez und Kosmos widerspiegelt.

Sie nimmt noch einen Kaffeeschluck, dann kommt eine ältere Nachbarin zur Dauerwelle. Haare gewaschen wird im kleinen Hinterzimmer, das gleichzeitig Ruheraum, Lager und Küche mit Waschmaschine ist. Mandarinen liegen auf dem Regal, Bücher daneben. Heidis Salon ist nicht schickimicki, sondern familiär und gemütlich. »Hier jibts keen Tamtam!« sagt die Kundin und legt den Kopf zurück in das Keramikbecken. Dafür aber Heidis jahrzehntelange Erfahrung mit der Schere und ihre Herzlichkeit. Sie kennt die Familiengeschichten, Hoffnungen und Krankheiten ihrer Kunden. »Ich hab schon alles gehört, ich könnte ein Buch schreiben. Die Leute erzählen, erst recht, wenn sie alleine sind. Vor allem die Frauen, die Männer sind ruhiger. Männer machen auch keine Termine, die sind anders. Die schauen lieber fünfmal rein, ob gerade was frei ist.« Manchmal kommen sie auch, nachdem sie sich ihre Haare selbst geschnitten haben. »Schön ist was anderes!« lacht sie dann und setzt die Schere an. 90 Prozent ihres Klientel sind Stammkunden. »Manchmal verirren sich Touristen, aber von Laufkundschaft käme nicht mal die Miete rein.« Es gibt Familien, die bis zur vierten Generation bei ihr sind, mit Dauerwelle für die Uroma und Sidecut für den Enkel. Dass es bei ihr kein »Tamtam« gibt, nicht einmal Musik dudelt – »Wie soll man denn da dem Kunden zuhören und sich dabei noch konzentrieren?« - ist für Heidi der Grund, dass die meisten Stammkunden Deutsche sind. Türkinnen hätten zu große Ansprüche, sie würden wie ein Topmodel aus dem Salon gehen wollen. Und Heidi ist zu ehrlich: »Ich kann nicht genug schmeicheln. Wenn sie mit einem Foto ankommen, sag ich ihnen, dass der Schnitt nicht zu ihrer Kopfform passt oder drei Stunden Föhnen und Schminke braucht, damit er ein bisschen wie auf dem Bild aussieht.« Die Türken würden das nicht hören wollen. Die Deutschen seien da praktischer.

Mit 17 machte Hayriye ihre Lehre bei einem deutschen Friseur in der Obentrautstraße. Die Kolleginnen stotterten bei ihrem Namen genauso herum wie die deutschen Kunden. So wurde sie einfach zu Heidi. Hayriye-Heidi fand es lustig. »Ich bin als Kind mit dem Zeichentrickfilm Heidi aufgewachsen.« Ihren eigenen Salon nannte sie folgerichtig »Coiffeur Heidi«.

Die kleine Hayriye wuchs in einem türkischen Dorf nahe der Schwarzmeerküste auf - eine freie Kindheit mit Tieren und Bäumen zum Klettern. Ihr Vater zog 1968 als AEG-Vertragsarbeiter nach Berlin und wohnte in einem Gastarbeiterheim. 1975 zog die Elfjährige mit Mutter und drei Geschwistern nach. Die Familie war glücklich, wieder beieinander zu sein, auch wenn der Wechsel aus dem hellen Süden in die graue Großstadt zunächst unheimlich war. Es roch nach Braunkohle statt nach Holzfeuer, die Sprache war fremd. Anfangs ließen die Eltern die Kinder kaum aus dem Haus. Aber mit der Zeit fasste die Familie Fuß in ihrer neuen Heimat Neukölln und zog in eine größere Wohnung nahe der Sonnenallee, wo sie heute noch leben. Zwei weitere Geschwister wurden dort geboren, die Mutter arbeitete in einer Metall-Firma. Hayriye wundert sich, wie sie das damals alles geschafft hat: »Wir waren zu acht und es gab immer gekochtes Essen und selbst gebackenes Brot. Am Wochenende kamen oft über 20 Freunde und Verwandte zu Besuch und sie war froh darüber.«

Ihre Familie ist religiös aber tolerant. Mädchen und Jungen wurden gleich behandelt. »Meine Eltern ließen uns viel Freiheit, selbst wenn ich mit kurzem Rock durch die Straße gelaufen bin und später mit Freundinnen in deutsche Eckkneipen rein. Da war Superstimmung. Jetzt sind die alle weg.« Heute sieht sie, dass Jungen in manchen Familien wieder wie kleine Paschas verwöhnt werden. Auch die Freundschaft türkischer mit deutschen Kindern ist nicht mehr so selbstverständlich. Damals zogen alle gemeinsam durch die Straßen. Hinter dem Wildenbruchplatz lag der Kanal und hinter dem Kanal die Mauer. »Wir wollten immer auf die andere Seite rüber klettern.« Als Jugendliche lernte sie Kampfsport. »Taekwando ist eine tolle Sportart für Körperbeherrschung und innere Ruhe.«

Die Gegend um die Fuldastraße ist immer noch ihr Dorf. »Ich habe hier nie Angst gehabt und es ist mir nie was passiert. Ob Araber, Türken, Deutsche, schwarz, weiß – für mich sind die Menschen gleich. Wenn jemand gegen Ausländer hetzt, da bin ich empfindlich.« Als einmal im vollen Bus ein Mann ihre Mutter anbrüllte, dass die Ausländer den ganzen Platz wegnehmen, hat Hayriye ihm eine geklatscht. Der Busfahrer nickte ihr einvernehmlich zu. Wenn ein Kunde anfängt, über die Ausländer oder die Frauen oder die Männer Sprüche zu klopfen, hält sie dagegen. »Wahnsinn, was die Leute alles erzählen!« Auch intime Dinge bekommt sie zu hören. »Am Anfang wurde ich knallrot, aber man gewöhnt sich an alles.« Eine tolerante Einstellung sei die Voraussetzung für ihren Beruf. »Man muss die Menschen lieben wie sie sind. Ihre Macken kann ich nicht ändern, will ich auch nicht. Ich bin glücklich, wenn die Leute rausgehen mit strahlenden Augen wegen der äußerlichen Veränderung und der innerlichen Erleichterung durch das Reden. Friseur zu sein ist ein Doppelglück, ich bin auch billiger Psychologe«. Ihren Psychologen-Kopf bekommt Heidi wieder frei, wenn sie jeden Morgen zu Fuß von der Sonnenallee zum Südstern läuft. Und durchs Lesen. Kunden tauschen mit ihr Bücher im Laden. »Ich freu mich wie ein Kind auf meine Bücher.« Und auf die jährlichen 2 Wochen Urlaub in der Türkei am Meer.

Doch dann muss wieder das Geld für die Miete erwirtschaftet werden. »Früher war das kein Problem. Die Leute verdienten besser und kamen 3 mal die Woche, nur um sich die Haare föhnen zu lassen, auch Putzfrauen! Strähnchen, Löwenmähne, Dauerwelle auch für Männer – das waren die 90er!« kichert sie. Jetzt sei das komplett anders. Die alten Leute mit ihrer kleinen Rente tun ihr leid. »Der Friseurbesuch ist oft die einzige Freude! Ich mach dann Extrapreis. Wir werden doch alle alt.« Solidarität kam auch von Kundenseite: alte Damen wollten ihr 1000 Euro geben, damit der Laden den Lockdown überlebt. Heidi treten Tränen in die Augen. »Ich habe so eine liebe Kundschaft. Sie haben mich wie ein Familienmitglied aufgenommen, beim Umzug geholfen, den Laden gestrichen. Ich habe wirklich Glück!« Sie wollte immer selbständig sein. Seit 30 Jahren ist sie es, arbeitet alleine. Verheiratet ist sie nicht, es fehlt ihr auch nicht. »Vielleicht später mal. Wenn ein Prinz auf einem weißen Pferd mich durch die Hasenheide entführt!« Vor 8 Jahren musste Heidi auf die andere Seite des Südsterns umziehen, da die Miete für ihren ersten Salon verdoppelt wurde. Nun bangt sie, dass ihr kleiner Laden weiter in das Portfolio der Immobilien-Gruppe Covivio passt und ihr Vertrag ohne extreme Mietsteigerung verlängert wird. Sie zahlt jetzt schon 1380 Euro. Wie das Schicksal es will, arbeitet ein Kunde für eine Kreuzberger Beratung für Kleingewerbe und will sie unterstützen. Noch 10 Jahre weiterarbeiten in ihrem Mikrokosmos »Coiffeur Heidi«, das wäre ihr Traum.

Es ist 17 Uhr, eigentlich schon Feierabend. Ein altes Ehepaar betritt den Laden, und Heidi stutzt schnell und liebevoll den Schnauzer des Mannes. Dann kommt noch Martin, der sich vor der Marokko-Reise die langen Haare kürzen lassen will. Nach Späßen und Gelächter hat er eine fesche Surferfrisur. Heidi erzählt, dass die Nachbarin von oben, die Studienrätin, sie fragte, warum sie durch die Decke immer so viel Lachen hört, was denn da bei ihr los wäre? •


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