Kreuzberger Chronik
Juni 2022 - Ausgabe 240

Kreuzberger
Manni Feldner

Es war schon ein wenig unterhaltsam in meinem Leben


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Die Siebzigerjahre. Ein Vierteljahrhundert ist vergangen seit dem Ende des Krieges, doch in Berlin ist die Zerstörung noch allgegenwärtig. Niemand möchte wohnen auf dieser Insel mit den zerstörten Häusern mitten im Feindesland. Nur junge Männer zieht es scharenweise hierher, Männer um die zwanzig Jahre alt, die den Krieg nicht miterlebt haben und die ihn niemals miterleben wollen. Männer, die nicht zum Militär wollen. Männer wie Manfred Feldner.

Trotzdem verspürte er die Spur eines schlechten Gewissens, als er die Flucht nach Berlin antrat, wo auch wehrfähige Männer nicht eingezogen wurden. Das Gewissen meldete sich nicht, weil er sich dem Vaterland verpflichtet gefühlt hätte, sondern wegen des Offiziers, dem er erzählt hatte, dass er noch zwei Jahre bis zum Abitur habe und den Anschluss verlieren würde, wenn er jetzt zum Militär gehe. »Wenn Sie mir binnen einer Woche eine Schulbescheinigung des Gymnasiums bringen, stelle ich Sie bis zum Abitur frei«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. Manni war ihm »wirklich dankbar!«, aber was hätte er tun sollen, als die Klassenkameraden beim Abiball in der Aula erzählten, dass vor dem Schulgebäude zwei Jeeps der Feldjäger auf ihn warteten. Manni verzichtete auf den Abiball, nahm den Hinterausgang, ließ sich von Freunden zur Autobahn fahren und trampte nach Berlin.

Ein Vierteljahrhundert war seit dem Krieg vergangen, doch noch immer legte man in der Bundesrepublik Wert auf Zucht und Ordnung.Auch auf dem Kieler Gymnasium. Als Manni ein Gedicht von François Villon aufsagte, schüttelte der Lehrer den Kopf, wandte sich an die Mitschüler und sagte: »Ihr habt alle gesehen, dass der Rezitator beim Vortrag nicht wippend auf den Fußballen, sondern steif auf den Hacken gestanden hat!« Manni erhielt die Note Sechs und musste sich setzen. Den denkwürdigen Satz seines Lehrers hat er »sechzig Jahre lang nicht vergessen!«

Manni begann sich zu wehren. Gemeinsam mit einigen Mitschülern notierte er einige Sprüche, die sich beim Lehrpersonal noch immer großer Beliebtheit erfreuten, Sätze wie »Die Polen haben den Krieg begonnen!« und »Wir führten einen Verteidigungskrieg«. Als sie genug Beweise für die nationalsozialistische Gesinnung ihrer Lehrer zusammen hatten, zitierten sie deren Parolen mit einem Megaphon auf dem Schulhof, woraufhin neun Schüler die Schule verlassen mussten, unter ihnen auch Manfred Feldner. Auf welchem deutschen Gymnasium er sich nun bewarb, er wurde immer wieder abgewiesen. »Aus politischen Gründen! Das hab ich sogar schriftlich.«

Da er keine Schule fand, machte er - »als echter Kieler Junge«, dessen Vater sechs Jahre im U-Boot gesessen hatte, dessen Großvater 1918 beim Matrosenaufstand dabei und dessen bester Schulfreund der Sohn des Kommandanten der Gorch Fock war - sein Seefahrtbuch. Eher prophylaktisch, doch irgendwann ging er tatsächlich auch einmal als Messesteward an Bord eines Frachters und bediente die Mannschaft im Speisesaal. Es war nur eine Beschäftigung von vielen, mit denen sich Manni durchs Leben schlug. »Ich habe immer gearbeitet, auch zu Studentenzeiten.« Bafög konnte Manni schon aus politischen Gründen nicht annehmen. »Ich hatte nie Geld! Und wenn ich eines hatte, war es gleich wieder weg. Als ich zum Beispiel meinen ersten Lohn bekam, hab ich am Abend ordentlich gefeiert. Am nächsten Morgen grüßte mich das halbe Dorf!«

Manni arbeitete als Technischer Zeichner in Bayern, als Holzfäller in Kanada, als Antiquitäten- und Möbelhändler in Berlin, als Lehrer und als Industriekaufmann. Sogar als Schlafwagenschaffner. Da hatte er gerade in Friedrichshaven doch noch ein Gymnasium gefunden, das ihn aufnehmen wollte, aber bis zum Schulbeginn dauerte es noch einige Monate. Also heuerte er bei der Bundesbahn an, kombinierte Bart und lange Haare mit einer blauen Uniform und fuhr fortan einmal die Woche von Hamburg Altona nach Ventimiglia. »Damals konnte man sich die Strecken auswählen, und vor der Endstation lag Finale Ligure. Da hab ich die Uniform ausgezogen, Jeans angezogen und den Zug verlassen. Am Strand, der gleich beim Bahnhof war, gabs ne kleine Bar und hübsche Italienerinnen. Und wenn der Zug drei Stunden später zurückkam, bin ich wieder eingestiegen. Das hab ich zig mal so gemacht, aber dann bin ich irgendwann eingeschlafen, und als ich am Bahnhof ankomme, war der Zug schon durch. Gegenüber standen ein paar Jungs mit Mopeds, die waren gleich dabei, und dann sind wir losgebrettert, Brücke, Tunnel, Brücke, Tunnel, und lauter Kurven - immer den Geleisen nach. Beim ersten Bahnhof sahen wir nur noch die Rücklichter, aber an der nächsten Station hatten wir ihn. Und alle jubelten!«

Es waren die Siebzigerjahre. Nicht nur die Jahre, in denen Langhaarige als Gammler verschrien wurden und Polizisten Studenten verprügelten, weil sie gegen den Krieg in Vietnam demonstrierten. Es waren auch die Jahre der Freiheit und des Aufbruchs. »Die Welt stand uns offen, alles, was man brauchte, war ein alter R4 oder ein Motorrad und nen Schlafsack.« Und die richtige Gesinnung. Manni hatte sie.

Die Abifeier in Friedrichshaven war noch nicht vorüber, da stand er schon an der Straße auf dem Weg in die Freiheit. Doch kaum war er in Berlin angekommen, erhielt er zwei schriftliche Einberufungsbefehle - obwohl deren Zustellung im Westen Berlins untersagt war. Daraufhin schrieb er zurück, dass er den nächsten Brief mit Absender der Bundeswehr unverzüglich an den sowjetischen Stadtkommandanten weiterleiten würde - und hatte seine Ruhe.

Anstatt Maschinengewehre zu schultern, begann Manni zu studieren. Er wollte ein besserer Deutschlehrer werden als sein Deutschlehrer in Kiel. Er war fleißig, besuchte Vorlesungen in Publizistik, Geographie, Lateinamerikanistik und machte am Ende seinen Magister in Germanistik und Geographie. Aber die Tür zur Welt stand weit offen, und so bestieg er 1973 mit Mike Schumann, einem Kommilitonen, ein Flugzeug nach New York und trampte nach Los Angeles. »Und dann sind wir losgelaufen und haben uns einen Motorradladen gesucht. Und gefunden! Total nette Leute, die meinten, sie hätten da noch eine alte Suzuki, der Motor sei gerade in 1000 Teile zerlegt, aber die wäre für 175 Dollar zu haben. Wir könnten bei ihnen wohnen und den Motor in der Küche zusammenbauen. Das haben wir dann auch gemacht, war ein netter Abend mit Essen und Rotwein und Joints, glaub ich.« In der Nacht lagen sie wie die Sardellen in ihren Schlafsäcken auf dem Boden, und weil neben ihm eine Frau lag, wurde es eine schlaflose Nacht. »Am nächsten Morgen sah ich dann, welche Dimensionen die hatte. Die war einen Kopf größer, wir mussten beide laut lachen, als wir beim Frühstück voreinander standen…«

Drei Tage später waren sie auf der Panamericana, fuhren mit dem Motorrad 15.000 Kilometer bis nach Equador. Wo die Straße endete, schlugen sie sich mit der Machete durch den Urwald, oder sie starteten mit einer alten DC3 von La Paz in Bolivien auf 4000 Metern und schraubten sich höher und höher, rechts und links noch höhere Berge, bis sie irgendwann durch waren durch die Anden. Sie flogen stundenlang über Dschungel, um am Ende auf einer holprigen Wiese voller Flugzeugwracks in Brasilien zu landen. »Es war schon ein bisschen kurzweilig in meinem Leben.«

Ein paar Jahre später kehrte der Germanist Feldner noch einmal zurück nach Mexiko, diesmal auf den Spuren des Schriftstellers B. Traven. Die Literaturgeschichtler hatten damals bereits den Verdacht, dass sich hinter dem Pseudonym Traven der aus Deutschland geflohene Anarchist und Freund Erich Mühsams verbarg: Ret Marut, Herausgeber des Ziegelbrenner. Der Student wollte seine Diplomarbeit über den literarischen Querulanten schreiben, der mit dem Totenschiff einen Weltbestseller gelandet hatte. Seit Manni von der Schule geflogen war, hatte das Leben seine Unschuld verloren. Er hatte 1968 in Prag in das Kanonenrohr eines Panzers geblickt, er hatte die Studentenrevolte in Mexiko miterlebt, bei der 300 Studenten erschossen wurden. Und im Hafen von Gdynia hisste man die deutsche Flagge für den kleinen Segler, der die Schiffsblockade der polnischen Werftarbeiter unterstützte, die gegen den Expansionsdrang der Russen protestierten. »Ich war nie in so einem Verein oder einer Partei«, aber Politik war immer ein Thema. »Wir waren schon ganz schön links in den Siebzigerjahren!«, sagt Feldner und lacht.

Auch wenn Manni ein Kieler Junge ist und heute noch einen Bart trägt, der jedem Hochseekapitän stehen würde: Er hätte sich nie für den Autor des Totenschiffes interessiert, wäre der politisch unkorrekt gewesen. Zu gern hätte er bewiesen, dass Traven kein Seefahrerabenteuer, sondern einen politischen Roman geschrieben hatte. Eines Tages sitzt der Germanist in einem mexikanischen Café und unterhält sich mit einem Freund über Traven, da beugt sich eine Dame vom Nebentisch herüber und mischt sich ein in das Gespräch, »aber irgendwann stand sie unvermittelt auf und sagte im Hinausgehen: Ich war mit dem, den Sie suchen, verheiratet!« Damit war klar, dass sie kein weiteres Wort sagen würde, und so vergingen noch einmal Jahre, bis endlich bewiesen wurde, dass Traven und Marut identisch waren.

Selbst als Manni später in der Bergmannstraße mit Freunden fünf Antiquitätenläden eröffnete und die Straße zur Trödelmeile wurde, war das politisch korrekt. »Wir verkauften ja nicht nur Biedermeiersekretäre, sondern auch praktische Möbel für Leute, die kein Geld hatten.« Die Geschichte mit den Thonet-Stühlen allerdings fiel aus der Reihe. Manni hatte in Ägypten auf einem Markt Nachbauten von Thonet-Stühlen gesehen und sich nach dem Preis erkundigt. Er hoffte auf Mengenrabatt und fragte, was es kosten würde, wenn er zehn, hundert oder tausend kaufen würde. Jedesmal verschwand der Bursche in den hinteren Gemächern beim Chef und kam zurück mit dem zehnfachen, hundertfachen oder tausendfachen Preis.

So ließen sich keine Geschäfte machen. Zurück in Berlin wandte Manni sich an die ägyptische Botschaft und bat um eine Liste von Möbelmanufakturen in Ägypten. Die Botschafterin, eine Cousine des Königssohnes, rief ihren Cousin an, der vorschlug, Herr Feldner solle nach Kairo reisen, um sich vor Ort ein Bild zu machen. »Am Flughafen erwartete mich ein Mann in weißen Gewändern mit einem großen Schild: Mr. Manfred!« Der Chauffeur brachte ihn mit einer riesigen Limousine in eines der vornehmsten Hotels der Stadt, wo man ihm mitteilte, dass der Königssohn ihn am nächsten Tag empfangen werde.

Also saß er am nächsten Morgen im Anzug in der Hotellobby und wartete. »Plötzlich kam da eine Lady herein… - was für eine Frau! Alles hielt den Atem an, das gesamte Hotelpersonal verbeugte sich, während sie die Halle durchschritt. Eine halbe Stunde später kommt die Dame von der Rezeption und sagt: Die Frau des Königssohns erwartete Sie schon. Darf ich bitten….«

In perfektem Oxford-English erklärte sie, dass ihr Mann sich verspäte und fragte, ob Mr. Manfred Lust habe, mit ihr »downtown shoppen zu gehen«. Sie spazierten in die teuersten Boutiquen, die Lady verschwand in den Umkleiden, um in einem roten, blauen oder gelben Kleid wieder aufzutauchen, und Manfred nickte, schüttelte zweifelnd den Kopf oder sagte ganz entschieden: »No! No way. The other one.« Das ging so bis zum Nachmittag, dann brachte sie den Gast zum Palast, wies ihm einen Platz auf der Terrasse an und entschuldigte sich: Sie habe jetzt Kopfschmerzen, ihr Mann komme gleich.

Mit dem Königssohn sprach Manni dann über den zweiten Weltkrieg, über Geschäfte mit Panzern, dieses und jenes eben. Nur auf die Stühle waren sie nicht zu sprechen gekommen. Aber der Königssohn ließ es sich nicht nehmen, den deutschen Gast persönlich zum Hotel zu bringen, wo er lässig die Hand aus dem Fenster baumeln ließ, damit das Personal vorüberflanieren und sie küssen konnte.

Am nächsten Tag erschien ein Mittelsmann, der Kontakte zu den Möbelfabriken hatte, ein ehemaliger General und Kriegsveteran mit Holzbein, der jetzt als Sportreporter für das Fernsehen arbeitete und am Abend das Endspiel der ägyptischen Basketball-Liga kommentieren sollte. »Das müssen Sie sich ansehen, Mr. Manfred, unbedingt! Ich werde Sie erwähnen…«


Tatsächlich saß der Berliner am Abend im Hotel und sah sich das Basketballspiel an, als er plötzlich zwischen dem rasendschnellen Arabisch einige deutlich englische Worte vernahm: »And now i want to welcome Mr. Manfred, who is watching us today…«

Einige Wochen später war Kreuzberg um 1200 Thonet-Stühle reicher und Manni hatte tatsächlich einmal etwas Geld in der Tasche. Der Heidelberger Krug, die gemütliche Kneipe am Chamissoplatz, die er einige Jahre zuvor übernommen hatte, warf nicht viel ab. Aber der ehemalige Messesteward hatte innerhalb kurzer Zeit eine illustere Gesellschaft an Personal und Gästen um sich versammelt. »Das hat schon viel Spaß gemacht. Ich hatte ein tolles Team.« Da war Mathias, der Theatermann von der Schaumbühne, der im Wasserturm einen Jugendclub einrichtete und der eines Tages kam und sagte: »Manni, jetzt bist du dran: Ich brauch ´n Job«. Dann war da Botsch in der Küche, Uwe und Ute, die kellnerte, Meltemia, benannt nach diesem griechischen Wind, Prado, Meike und Snejana - »lauter nette Leute. Und die konnten da alle ein bisschen was verdienen.«

Für ihn selbst blieb am Ende nicht viel übrig. »Aber ich habe den Krug ja nicht gemacht, um mir die Rente zusammenzusparen.« Er machte den Krug, weil diese kleine Kreuzberger Gesellschaft es ihm irgendwie angetan hatte. Weil das hier mehr war als nur Bier trinken und reden. Im Krug organisierten sie das Chamissoplatzfest, der Galerist Werner Tammen versammelte die Künstlerszene am Platz, der samstägliche Biomarkt wurde eröffnet, und Klavierhelmut stellte eines seiner alten Instrumente im Krug ab für die Klassische Nacht. »Das sah hier aus wie ein Baumwollfeld, lauter grauhaarige Köpfe, Rentner aus ganz Berlin kamen plötzlich nach Kreuzberg.«

Das Klavier blieb stehen, jahrelang, wie so viele andere, die Klavierhelmut in irgendwelchen Kneipen abstellte, weil er seine Werkstatt aufgegeben und keinen Platz hatte für die guten Stücke. Und immer wieder gab es Abende, an denen seine Klaviere in den Mittelpunkt rückten, an denen sich irgendjemand daran setzte und zu spielen begann. Kreuzbergs Kneipen waren nicht nur Kneipen, sie waren ein Stück gelebter Alternative, ein Gegenentwurf zum Status Quo, ein politisches Statement. Fünfzehn Jahre lang war Manni Wirt. »Das war schon eine schöne Zeit, das muss ich wirklich sagen!«

2009 wandte er sich dann doch noch als Lehrkraft den Kindern zu und fuhr mit »herausfordernden Schülern – wie das jetzt heißt« - auf einem Zweimaster aufs Meer. Damit sie lernten, dass alle zusammenhalten müssen, um ein Schiff auf Kurs zu halten. Und dass niemand auf den Hacken stehen muss, wenn er ein Gedicht vorträgt.





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