Kreuzberger Chronik
Juni 2022 - Ausgabe 240

Geschichten & Geschichte

Dr. Heim und Madame du Titre


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von Werner von Westhafen

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Anekdoten über zwei Originale



Ernst Ludwig Heim, der berühmte »Hausarzt«, an den heute noch der Name eines kleinen Kopfsteinpflastersträßchens Kreuzbergs erinnert, war - wie Christoph Rohowski in der Berlinischen Monatsschrift schreibt - ein Berliner Original: »Raunziger Ton, knappe Anweisungen, ein kerniger Humor, der keine Standesunterschiede kannte«, sollen ihn ausgezeichnet haben. Die Ignoranz der Klassenunterschiede machte ihn nicht nur zu einem echten Berliner, sondern auch zu einem echten Kreuzberger.

Heim war der geborene Widerständler. Schon am Tag seiner Geburt lag der Sohn des ärmlichen Dorfpfarrers so leblos in der Wiege, dass der Vater ihn eiligst auf den Namen Ernst Ludwig taufte und das Haus verließ. Als er am Abend heimkehrte, lebte der Sohn immer noch. Der kleine Kerl überlebte Scharlach und Pocken, konnte mit zwölf noch nicht richtig schreiben, sodass der Vater folgerte, er könne es »bestenfalls zum einfachen Arzt« bringen. Als die Mutter des Vierzehnjährigen in Ermangelung ärztlicher Versorgung starb, beschloss Ernst Ludwig, tatsächlich Arzt zu werden und sich um die Armen zu kümmern.

Niemand glaubte, dass er das Studium beenden würde. Als Ernst Ludwig Heim, der das Studentendasein mit Wein und Pfeifentabak in vollen Zügen genoss, den Vater um Geld bat, schrieb der zurück: »Du bist schon immer ein leichtsinniger und liederlicher Mensch gewesen.« Der Bruder fügt hinzu: »Wer möchte sein Leben einem Arzt anvertrauen, der so viele leere und luftige Gedanken hat.«

Den familiären Skeptikern zum Trotz vertrauten sich schon zu Studienzeiten viele dem jungen Mediziner an, der, um seine finanzielle Not zu lindern, für Hausbesuche auch Naturalien entgegennahm und nicht selten ganz aufs Honorar verzichtete. Als er 1772 den Doktortitel erhielt, eilte ihm längst der Ruf voraus, ein Wunderdoktor zu sein. Seine unkonventionellen Methoden – verbot ein Arzt seinem Patienten den Wein und das Reiten, empfahl Heim zwei Liter Roten am Tag und eine Stunde Galoppieren – dürften dabei eine ebenso wichtige Rolle ge-spielt haben wie seine schnörkellose Sprache und sein unverblümter Witz, der seinen Patienten nicht selten zu denken gab.

Bis zu 80 Patienten soll Heim »an guten Tagen« mit seinem Pferd in ihren Häusern besucht haben - die meisten von ihnen arme Leute. Natürlich sprach sich auch in besseren Kreisen herum, dass es da einen Arzt gab, der mit dem Mikroskop dem Krankheitserreger der Pocken auf der Spur sei und der bereits - allen Bedenken reaktionärer Kollegen zum Trotz - mit einem aus England stammenden Mittel gegen die Krankheit impfte. Getreu dem hippokratischen Eid folgte er auch den Hilferufen der Besserverdienenden, doch wenn diese ihn, wie in besserer Gesellschaft üblich, erst einmal warten ließen, erklärte er, seine Zeit für die Armen zu brauchen, »grüßte und kam nie wieder.«

Für Plaudereien hatte der Doktor keine Zeit. Wenn die feinen Damen ihn mit Geschwätz aufhielten, wurde er ungemütlich. Als eine ihn davon zu überzeugen versuchte, dass Eselsmilch gut für sie sei, sagte er: »Eselsmilch ist gut für junge Esel.« Als eine andere der Meinung war, dass Sauerkraut, auf die Stirn gelegt, ihre Kopfschmerzen lindere, antwortete Heim: »Dann legen sie doch gleich noch eine Bratwurst dazu!«

Eine ganz besondere Sympathie hegte Heim für Madame du Titre, die vermögende Tochter des hugenottischen Baumeisters Benjamin George, der zahlreiche Ländereien an der Spree besaß. Die junge Frau stand in der Küche und häckselte Petersilie, als ein reicher französischer Seifenhändler des Weges kam und fragte: »Mamsellken, möchten Sie denn dereinst auch in meiner Küche jrine Petersilie hacken?«

Mamsellken wollte, wurde Etienne du Titres Gemahlin und noch ein bisschen wohlhabender, als sie ohnehin schon war. In Gesellschaft soll sie ein vornehmes Französisch gesprochen haben, ansonsten bediente sie sich eines groben Berliner Dialekts, der sich wenig um Grammatik scherte. Diese amüsante Mischung brachte ihr die Gunst des Königs ein, der jedes Mal, wenn er an ihrem Haus vorüberritt, die Frau im Fenster grüßte und sogar besucht haben soll. Als sich König und Untertanin eines Abends im Schauspielhaus trafen, begrüßte sie ihn mit den Worten: »Ju´n Abend seine Majestät, König Friedrich der Dritte« und berichtete unverzüglich von ihrem Schwiegersohn aus Rom, der »schon zweemal bei´n Papst« gewesen sei, »un meine Tochter war ooch bei der Frau Päpstin zum Tee jebeten.« So gab es die Klatschpresse wieder.

Ob sich der alte Heim ebenso wie der König über die Madame amüsieren konnte, oder ob sie ihn den letzten Nerv kostete, ist nicht überliefert. Für letzteres spricht die Tatsache, dass er bei der Visite gar nicht erst das Haus betrat. Er war mit der Französin übereingekommen, dass sie ihm vom Fenster aus nur die Zunge herauszustrecken brauchte, damit er wusste, dass sie sich bester Gesundheit erfreute.

Eines Tages allerdings konnte sich Doktor Heim den Weg ins Haus nicht ersparen: Der Seifenfabrikant lag im Sterben und wünschte nichts sehnlicher, als seine geliebte Mamsell noch einmal zu sehen. »Selbst der alte Heim«, so wurde überliefert, konnte Madame du Titre nicht dazu überreden, ihrem Gemahl diesen Wunsch zu erfüllen. Sie ging bis zur Tür, öffnete sie nur für einen kurzen Moment und nur einen Spalt breit um hineinzurufen: »Jott Vater, wat soll denn das? Du weest doch, ick kann keene Todten nich sehn!«

Womöglich war Dr. Heim wenige Jahre später auch an ihrem Sterbebett zugegen, und womöglich hatte sie ihm in dieser Stunde auch jenen Satz anvertraut, der in vielen Texten über sie verewigt ist: »Wenn ick mir so denke, wer von meine Verwandten all det scheene Jeld erben dut, mecht ick am liebsten jarnich sterben!« •




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