Kreuzberger Chronik
Juni 2022 - Ausgabe 240

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die Berliner Schulbauoffensive


linie

von Edith Siepmann

1pixgif
Die Lenauschule, Kreuzbergs erste Ganztagsschule, ist abgerissen. Jetzt warten Kinder, Pädagogen, Eltern und auch eine heimatlose Spatzenkolonie auf den Neubau für eine neue Gemeinschaftsschule im Bergmannkiez.

Die Gneisenaustraße durchschneidet geräuschvoll den Kreuzberger Südwestkiez. Autos rollen auf vier Spuren und parken in Zweierreihen, Rennräder überholen Lieferdienste, neben Spätis tollen Schulkinder auf dem Bürgersteig. Biegt man in die Nostitzstraße Richtung Friedhof ein, verstummt der Verkehrslärm und Silhouetten von Kränen zeichnen sich vor dem Himmelsblau ab. Vor kurzem dröhnten noch riesige Presslufthammer, kämpften Wasserfontänen gegen Massen von Staub an, der in die Wohnungen der Nachbarn wehte. Jetzt liegen hier Berge von Schutt, ragen Eisengeflechte in die Luft.

In diesen Maitagen löst der Anblick des großen Abriss-Areals zwischen Nostitz-, Baruther, Solms- und Gneisenaustraße ungute Gefühle aus. Das Gelände erinnert optisch an Kreuzberg nach Kriegsende. Von der ehemaligen Lenauschule ist nur noch die Eingangstreppe übrig, und die führt ins Nichts. Der frühere Musikkeller - ein Riesenloch. Die Platanen und Kastanien des Schulhofs sind gefällt, die Spielgeräte und der Schulgarten abgeräumt – alles Vergangenheit. Planierraupen erstellen jetzt ein Baufeld. Es soll ein neuartiges »Lernhaus« in Holz-Modulbauweise für die Grundstufe einer Gemeinschaftsschule mit bisherigem Namen »Lina-Morgenstern« entstehen. Hier werden eines Tages 600 Kinder des Einzugsgebietes ihre ersten sechs Schuljahre verbringen. Das »Lernhaus« soll eine der ersten neuen Schulen der »Berliner Schulbauoffensive« werden. 5 Milliarden Euro sollen in die Sanierung maroder Schulen und in neue Schulbauten gleicher Bauweise investiert werden.


Foto: Edith Siepmann
Die Lenauschule war, wie die benachbarten Schulen Charlotte-Salomon und Reinhardswald, ebenfalls ein Modulbau und wurde nicht einmal 40 Jahre alt. Fehlende Instandhaltung mit kostspieligen Folgeschäden und verbautes Asbest machten dem Senat die Entscheidung leicht: weg damit. Die gleichen Mängel samt Asbest plagen auch die weiterhin bestehenden Schulen aus dieser Zeit. Aber der Abriss der Lenauschule passte gut zum Plan der Senatsverwaltung, in Kreuzberg eine zweite Gemeinschaftsschule zu etablieren, in der die Schülerinnen und Schüler von der Grund- bis zur Oberstufe bleiben können. Damit sollen auch sogenannten bildungsfernen Kindern mehr Chancen für einen höheren Schulabschluss gegeben werden.

Also wurden 2019 die ersten drei Klassenstufen in die nahe Sekundarschule Lina-Morgenstern umgesetzt, auf dass man sich gemeinschaftlich annähere. Die 4. bis 6. Klassen mussten in die weit entfernte Sekundarschule Ferdinand Freiligrath gegenüber den Bergmannfriedhöfen. Jetzt teilt man sich hier mit den Großen einen Miniaturschulhof oder sitzt zum Mittagessen eng gedrängt und getaktet im Container. Und allmählich vergisst man die großzügigen Räume und den weiten Garten der alten Schule. Diese beengenden Umstände sollten eigentlich nur von kurzer Dauer sein. Vorgesehen war, dass die neue Schule noch in diesem Sommer fertig wird. Dann wurde die Eröffnung aufs Schuljahr 2023/2024 vertagt. Mittlerweile haben sich die Kosten fast verdoppelt, gleichzeitig aber werden die Gelder reduziert. Corona kostet!

Zudem sorgt die Bauvergabe aller ehemals zwanzig geplanten neuen Berliner Schulen an einen einzigen Generalunternehmer für zusätzliche Schwierigkeiten. Alle Arbeiten - vom Rohbau bis zum Anschrauben der Garderobenhaken - liegen in seiner Hand. Die Münchner Firma beschäftigt jedoch Subunternehmer, die nicht immer die Mindestanforderungen des Senats erfüllen. Die Unternehmen aus der Region klagen, dass sie dadurch ausgebremst werden. Außerdem erschwert die Modulbauweise individuell gewünschte Anpassungen der einzelnen Schulen. Und so bestand die Partizipation des Personals und der Kinder dann einfach nur aus einem drei Stunden langen Möbelklötzchen-Schieben im Architekturmodell mit Diskussion. Die im Plan eingezeichnete Nutzung eines Teils des Dachs als »Lese-Garten« ist auf einmal angeblich niemals vorgesehen – sparen, sparen!

Die Lernhaus-Architektur der neuen Schule sieht kleeblattmäßig um eine gemeinschaftliche Mitte gruppierte Räume vor. Diese »compartments« entsprechen nicht mehr den alten Klassen, sondern Gruppen, in denen die einzelnen Kinder je nach Interesse und Bedürfnis Räume und Themen wechseln können. Dass durch die neuen Räume auch ein neues pädagogisches Konzept mit verstärkter Teamarbeit der Pädagoginnen nötig wird, ist Voraussetzung für ein gutes Gelingen.

Darauf hofft die Mutter von Ferdi: »Es geht darum, dass die Kinder von Anfang an beteiligt werden und mit Hilfe der Erwachsenen Projekte erarbeiten, lernen und ihre Interessen entdecken. Eigenständigkeit ist jetzt und in Zukunft wichtig. Das wünsche ich mir für meine und alle Kinder. Dazu müssen aber auch die Lehrkräfte pädagogisch begleitet und begeistert werden. Die neue Schule verlangt Mut.«

Eine Lehrerin hat Bedenken: »Dieses offene Konzept überfordert viele Kinder. Manche haben sowieso eine extrem niedrige Aufmerksamkeitsschwelle, und wahrscheinlich werden diese offenen Räume laut sein und reizüberflutet. Meine Erfahrung ist, dass Lernen nur durch Beziehung funktioniert.« Uwe Fischer, Ex-Lenau-Lehrer, trat immer für die Gemeinschaftsschule ein, in der Kinder nicht nach 4 oder 6 Jahren wieder in neue Schulen wechseln müssen, sondern sich eingebunden in einer Schulgemeinschaft, die der Mischung des Kiezes entspricht, weiter entwickeln können. »Wobei aber so ein Konzept nicht von oben über die Köpfe der Kolleginnen verordnet werden darf, wie bei uns geschehen, sondern abgestimmt werden muss. Die Nichtbeachtung der Betroffenen begleitet leider den ganzen Prozess. Dazu kommt die Einsparerei bei solchen Fusionen, die alles zusätzlich belastet.« Es herrscht die fatale Kontinuität der Berliner Bildungspolitik: Jede Schulreform der letzten Jahrzehnte war auch immer Gelegenheit zur Reduktion der Personalstunden.

Doch dass sich Schule ändern muss, damit sie der Realität unserer Gesellschaft, der Vielfalt der Kinder und auch den Lehrkräften gerecht wird, darin sind sich alle einig. Die Kinder müssen ihre diversen Stärken entdecken und entwickeln und ihre Schwächen individuell verbessern können. Dazu soll die neue Schule die architektonischen Voraussetzungen bieten.

Das Kollegium hat jedenfalls mehr oder weniger begeistert den Weg zur Gemeinschaftsschule eingeschlagen. Seit 2020 gibt es eine gymnasiale Oberstufe mit Abiturabschluss. Die Grundstufe bringt ihren Schwerpunkt Lesekultur samt Bibliothek mit, die Mittelstufe ihren kulturellen Tanz- und Theaterfokus. Und ganz aktuell wird die Schule ins Senats-Programm »Umweltschulen« aufgenommen: Klima, Artenvielfalt, Müll, Energie sollen wichtige Schwerpunkte werden, in denen sich alle Schulfächer und alle Kinder wiederfinden können. Auch die Bienenvölker im Schulgarten und die Spatzen aus der Nostitzstraße.

Die Spatzen! Ihr vorlautes Getschilpe war ein Wahrzeichen der alten Schule. In den maroden Rolladenkästen nistete die größte fassadenbrütende Spatzenkolonie Berlins, deretwegen der Abriss nach Klage und per Gesetzesvorgabe für ein halbes Jahr ausgesetzt wurde, da er sich in die Brutzeit hinein verspätet hatte. Kinder der 3. Klassen erinnern sich noch gut an die Piepmätze und setzen sich jetzt dafür ein, dass sie beim Neubau nicht vergessen werden. Rosa, Irma, Miu und Marla haben eine Spatzenzeitung gemacht und eine Unterschriftensammlung für Ersatznistkästen initiiert. Tatsächlich ist geplant, in der neuen Fassade mit den großen Fenstern Nistmöglichkeiten baulich zu integrieren, sagt Claudia Wegworth von den Berliner Spatzenrettern, die die Lenau-Spatzen-Geschichte gut kennt. Das sei kein Zugeständnis, sondern gesetzliche Vorschrift.

In diesen Wochen wird ganz demokratisch der neue Name für die vereinigte Schule aus Vorschlägen von Kindern, Eltern und Kollegium gewählt. Die Mehrheit schwankt zwischen »Gemeinschaftsschule im Bergmannkiez« und »Malala-Gemeinschaftsschule« zu Ehren der jungen pakistanischen Friedensnobelpreisträgerin. Einer Identifikationsfigur, die beweist, dass mutige Kinder vieles zum Guten verändern können. Fragt man die Kinder selbst, könnte sie auch einfach »Spatzenschule« heißen. Spatzen sind frech und haben viele Ideen. Und sie machen lebenslustigen Unsinn. Im Augenblick hüpfen sie auf den Eisendrähten des Lenau-Schutts herum und zwitschern, noch heimatlos.



Foto: Edith Siepmann
Rosa, Irma, Miu und Marla mit der Spatzenzeitung


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg