Kreuzberger Chronik
Juli 2022 - Ausgabe 241

Reportagen, Gespräche, Interviews

Hinter den Schrebergärten


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von Bernd Jakowski

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2018 wurde von einer Gruppe aus Künstlern und Architekten die Floating University Berlin »als temporäres innerstädtisches Labor und kollektiver Lernort für transdisziplinären Austausch initiiert.«

Foto: Sönke Tollkühn












Benni sitzt auf dem Holzsteg in der Sonne, den Rücken an eine Bretterwand gelehnt, vor ihm das Blau des Himmels in dem von Schilf umstandenen Wasserspiegel. Dahinter ragen grüne Baumwipfel auf, Bienen summen, Vögel zwitschern. Das Bild könnte einen See in Brandenburg zeigen, aber die Idylle liegt mitten in der Stadt, am Rande Kreuzbergs, gut versteckt hinter einem Gürtel aus Schrebergärten, die nach dem Krieg hier entstehen konnten, als jeder schuttfreie Quadratmeter Berliner Bodens dazu genutzt werden durfte, Kartoffeln, Kürbisse, Kohl und Möhren anzupflanzen. Die Stadt hungerte.

Außer den Schrebergärtnern und den Wohnmobilbesitzern, die in der Lilienthalstraße eine Bleibe gefunden haben, außer alten Kreuzbergern, die sich noch erinnern konnten, dass sich hinter dem Grünzeugs die legendäre Radrennbahn mit ihren Tribünen und das spätere Regenwasserauffangbecken des Flughafen Tempelhofs verbarg, außer einigen Kindern, die auf der Suche nach Eislaufbahnen über die Zäune kletterten, und außer den Liebespärchen, die im Schilf ihr Lager aufschlugen, kannte kaum jemand das verwunschene Eckchen.

Erst als die Berliner Mauer fiel und Investoren wie Heuschrecken über die Stadt herfielen und damit begannen, Berlins Grünflächen kahlzufressen, erst, als man auf die wahnwitzige Idee verfiel, das ehemalige Flughafenfeld - eine der größten innerstädtischen Grünflächen weltweit - mit Zementquadern zuzustellen, wurde man auf die Schrebergartenkolonie am Flughafen aufmerksam. Auf den Plänen einiger Architekten wurde das so genannte »Columbiaviertel« am nördlichen Rand des Tempelhofer Feldes noch um das »Lilienthalviertel« jenseits des Columbiadamms erweitert. Aus den kleinen Gartenhäuschen sollten große Townhouses werden.

Auch Benni hat das Regenwasserauffangbecken, das durch einen Kanal unter dem Columbiadamm von den Drainagen des alten Flugfeldes gespeist wird, erst spät entdeckt. Aber er war sofort beeindruckt von der vergessenen Landschaft und der Vegetation, die sich hier hatte entwickeln können. So wie den Schrebergärtnern und den Kindern auf dem Eis war auch ihm sofort klar, dass diese kleine Oase geschützt werden muss. Deshalb sitzt er im Herbst des Jahres 2021 auf dem Steg in der Sonne, das Laptop auf dem Schoß, und formuliert einen offenen Brief an die Zeitungen und den Senat. Es geht um eine Verlängerung des Nutzungsvertrags.

Benni hatte, um das Gelände vor der Baulobby zu schützen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mit dem Raumlabor beim Senat angefragt, ob man das Regenwasserauffangbecken als Kunstraum und Forschungslabor, als Diskussions- und Veranstaltungsort nutzen könne. Das Raumlabor ist eine Gruppe von Berliner Künstlern und Architekten, die seit 1999 an verschiedenen Orten in der Stadt aktiv ist und keine Manifestationen in Zement hinterlassen möchte, sondern die mit den letzten verbliebenen Freiräumen in der Stadt experimentiert. Es geht um Zukunftsgestaltung, um Visionen.

Angesichts der Prominenz der Gruppe ließ sich der Senat hinreissen, einen Pachtvertrag mit Raumlabor abzuschließen, woraufhin ein Verein gegründet und auf dem Gelände die Floating University ausgerufen wurde. 2021 wurde die Kreuzberger Freiluftuniversität auf der Biennale in Venedig prompt mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Das schürte die Hoffnung der Gruppe auf einen längerfristigen Pachtvertrag. Doch dem Senat imponiert der Löwe nicht, man bleibt wie üblich reserviert, Verträge werden auf ein Jahr befristet und enthalten die Auflage, alles, was im Frühjahr entsteht, im Herbst wieder abzureissen. Seit vier Jahren kämpft die Gruppe jetzt um ein Bleiberecht.

Einer der kampferprobtesten ist Jürgen, ein ehemaliger Hausbesetzer aus dem Gräfekiez, der »schon ziemlich früh seinen Marx gelernt« hat und von Anfang an dabei war, als es ums Enteignen der Deutsche Wohnen ging. Als er sah, wie vor der AGB junge Leute offensichtlich kostenloses Baumaterial auf einen Lkw luden, fragte er, was sie damit vorhätten und erfuhr von dem Projekt. Seitdem baut er mit, räumt auf, steht an der Bar und erklärt, wenn er gut gelaunt ist, verwunderten Besuchern, was das hier alles soll. Wenn er schlecht gelaunt ist, verjagt er sie wieder.

Foto: Sönke Tollkühn
Jetzt, im Sommer 2022, sind vier größere Holzbauten entstanden, eine Ökotoilettenanlage, eine Küche, eine Bar, zwei oder drei Konferenzsäle aus Baugerüsten und Wänden aus Strohballen, Schilf oder Holz. In der temporären Stadt, die jedes Jahr wie ein Phoenix aus der Asche neu entsteht, gibt es Konzerte und Theateraufführungen, Filmabende und Workshops, Bildungsprogramme für Kinder und Erwachsene. Kinder wandern in Gummistiefen durchs künstliche Watt und sind glücklich. Wenn es regnet und der See sich füllt, sind die Plattformen mit den einzelnen Projekträumen nur über die hölzernen Stege zu erreichen. Es herrscht ein Hauch von Exotik.

»Am schönsten ist die Aussicht zum Sonnenuntergang im Turm über der Bar!«, sagt Jürgen. »Das musst du dir ansehen!« Es ist Mode geworden in der Stadt, sich zu duzen, aber hier klingt es noch wie in den Westberliner Siebzigerjahren, als eine kleine, eingeschworene Gemeinde zusammengefunden hatte, um die Welt zu verändern. Es ist nicht viel Boden, den Jürgen und seine Mitkämpfer in den vierzigjährigen Auseinandersetzungen mit Stadt und Staat gutgemacht haben: Das Bethanien, das Tempelhofer Feld, ein paar besetzte Häuser... . Aber dieses Stück Land, diese winzige Idylle, könnte einmal dazugehören. Deshalb kommt er her.

»Das ist spannend«, die Mischung aus »Bauen, Pflanzen, Denken«. Deshalb setzt er sich mit den verschiedensten Leuten an einen Tisch, Künstlern, Architekten, Gärtnern und Studenten, mit denen er sonst wenig zu tun hat. Oder er zeigt den kleinen oder großen Mädchen, die Blümchen pflanzen wollen, wie man die Toiletten mit der Gießkanne bedient und in welchen Becher sie das Geld werfen sollen, wenn sie sich eine Limo aus dem Kühlschrank holen. Oder er erklärt den spanischen Studenten, dass das alles hier zum Flughafen gehört, der jetzt ein Park ist und Tempelhofer Freiheit heißt, aber mit Freiheit nicht mehr viel zu tun hat, seit Sperrstunden eingeführt und Verbote ausgesprochen wurden. Im Schutz der Schrebergärten allerdings gäbe es das noch: Freiheit. Manchmal, wenn ihn die vielen Fragen nerven, sagt er: »Macht, was ihr wollt!« Die Wortwahl ist kein Zufall. Sie ist Prinzip.

Foto: Sönke Tollkühn
Auch Martina ist schon lange dabei. Sie ist für den Boden und die Verkompostierung des Abfalls auf dem Gelände zuständig. Kompost ist eine Wissenschaft, und die Wissenschaftlerin hat ein 144 Seiten starkes Buch darüber verfasst. Unter den Bäumen am Ufer steht auf einem hölzernen Schild in großen Lettern: Heißkompost. Martina veranstaltet regelmäßig Workshops zum Thema.

Die gewonnene Erde, die schon nach drei Monaten gebrauchsfertig ist, kommt den 100 Buchen und den kleinen Eichen, die in Beeten und Plastebechern heranwachsen, zugute. Schließlich geht es um die Zukunft. Auch Tomaten, Gurken, Paprika gedeihen schnell im feuchtwarmen Mikroklima der Senke, die acht Meter unter Berliner Niveau liegt. Im Schilf brüten Vögel, Bienen schwirren, Frösche quaken. Das Becken ist eine Alternative zur Stadt, ein Experimentierfeld für Mensch und Natur. Auf einer Tafel vor der kleinen Baumschule steht: »Hier wächst der Wald des Schlechten Gewissens«.

Auch Martin, Dozent an der Universität von Bochum, der an diesem Abend eine Gruppe von Kunststudenten aus Dortmund zu einem Seminar am See empfängt, gehört zu den Pionieren im Becken. »Dahinten, das Holzhaus, das habe ich gebaut.« Mit einer Schubkarre transportiert er eine große Metallschüssel, die als Feuerstelle für den Grill dienen soll, über den Steg vom Geräteschuppen zum »Seminarraum«, der nicht aus vier, sondern aus nur zwei Strohwänden und einem Dach besteht. Darunter, wie im Vorlesesaal, stehen brav die Stuhlreihen, Pult, Lautsprecher. »Es ist immer wieder erstaunlich, wenn ich hier ankomme: In Bochum, abends, sind die Straßen leer, da geht keiner aus dem Haus. Alles spielt sich in den Wohnzimmern ab.«

Hier ist es umgekehrt. Hier lebt man unter freiem Himmel. Hier erlebt man Sommer, Winter, Regen. »Gerade leiden wir unter der Hitze!«, sagt Martin. Das Becken ist ausgetrocknet, nur noch ein kleiner Tümpel ist geblieben in der Nähe der Mündung des Kanals, der das Regenwasser vom Feld unter dem Columbiadamm hindurch leitet. Eine Krähenschar stolziert umher wie Wasservögel in einem Film über afrikanische Steppen. Martin erzählt nicht ohne Begeisterung, wie sich alles plötzlich verwandelt, sobald es regnet. »Früher blieb uns der See wochenlang erhalten!«, das Wasser bahnte sich nur langsam seinen Weg durch den dichten Schilfgürtel bis zum Abfluss, von wo es dann unterirdisch bis in den Landwehrkanal geleitet wird.

»Aber im Winter kam die Grün-Berlin-GmbH mit einem Bagger und schlug ein Schneise ins Schilf, damit das Wasser schneller abfließen kann.« Und ein paar Tage später, erzählt Martin, kamen die Ranger vom Tempelhofer Feld und untersagten den Kindern die beliebten Wattwanderungen, weil man eine geschützte Lurchenart entdeckt habe. Doch ginge es den Subunternehmern des Senats tatsächlich um das Wohl der Lurche, hätte man ihnen nicht das Wasser abgegraben.

Derartige Widersprüche lassen vermuten, dass es dem Senat vor allem darum geht, klarzustellen, wer das Sagen hat. Und dass das Regenwasserauffangbecken keine Spielwiese ist, sondern Eigentum der Stadt. Und dass sie ihr Eigentum verteidigen wird. Das haben auch die Schrebergärtner verstanden, als sie ihre Gärten dem Senat abkaufen wollten und eine Absage erhielten. Die Gärtner, die zuerst skeptisch auf die Studenten reagierten und in ihnen die Vorhut einer Streitmacht aus Architekten, Politikern und Immobilienhändlern sahen, haben auch verstanden, dass sie mit den jungen Leuten vom See in einem Boot sitzen, und dass sie, ebenso wie die Studenten, nur Zwischennutzer sind. Wenn auch schon seit 75 Jahren. Denn auch die Gärtner erhalten stets nur auf ein Jahr befristete Verträge.

Die Sorge um die Zukunft verbindet alle: Die Schrebergärtner, das Raumlabor und die verschiedenen Nutzer der Floating University. Sie fürchten um den Verlust eines der letzten innerstädtischen Freiräume Eine realistische Hoffnung auf einen dauerhaften Vertrag gibt es nicht. Man befände sich im »baurechtlichen Außenbereich«, eine »permanente Baugenehmigung« sei Illusion, erklärte Benni schon 2020.

Doch er schreibt weiter Briefe. Denn es geht nicht um ein kleines Stück privates Glück, um keinen Spielplatz für Kinder oder Erwachsene. Es geht um die Zukunft, um Visionen. Doch der Druck wächst. Aus der Floating University ist inzwischen Floating University geworden. »Es wurde uns von außen angetragen, den Begriff Universität zu streichen«, lächelt eine junge Studentin, die mit Kräutern beschäftigt ist. »Das haben wir wörtlich genommen. Da wird jeder, der das sieht, nachdenklich. Und Nachdenken ist wichtig.« •


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