Kreuzberger Chronik
Juli 2022 - Ausgabe 241

Hausverbot

Kellnern in den Zeiten der Kollektive


linie

von Michael Unfried

1pixgif
Es war die Zeit der Kollektive in Westberlin, Kneipen wie Barlaams Heide oder das Anfall gehörten keinem Wirt, sondern eine Gruppe Langhaariger, die Arbeit und Lohn fair zu teilen versuchten und ihren Gästen alle Freiheiten der Welt genehmigten. Auch das Godot wurde von einer sechsköpfigen Mannschaft geleitet, unter ihnen jedoch war ein gestandener Wirt: Manni!

Manni hatte gerade erst aufgemacht, da kam ein seltsames Paar herein: Ein gekrümmtes Männchen mit Gehstock und einem schiefen Kopf, an der Seite eine junge, schöne Frau. Als Manni an den Tisch trat, glaubte er, diesem merkwürdigen Wesen schon einmal begegnet zu sein, und als der Krüppel »Zwei Rotwein« bestellte und den Kopf hob, erkannte er seinen alten Philosophieprofessor.

Der Alte erkannte Manni nicht. Er hatte im Hörsaal stets einer anonymen Menge von 120 Studenten gegenüber gestanden, wenn er über Camus oder Sartre referierte. Dass er eine Studentin näher kennen lernen könnte, schien unmöglich. Nun saß er hier, und die Studentin ging zur Music-Box, warf eine Münze ein und begann zu tanzen. Der Professor sah zu und tat, als putze er die Gläser, als sie nach und nach die Jacke, das Hemd, den Rock abwarf, – bis sie vollkommen nackt in der Mitte des Raumes tanzte.

»Das muss ein Programm sein!« dachte Manni. »Wenn die Schicht so weitergeht, kann das ja lustig werden.« Doch als die Music-Box verstummte, sammelte die Studentin ihre Kleider vom Boden auf, zog sich an und verschwand mit dem Professor auf Nimmerwiedersehen. Und dann kam Achim. Betrunken. Bestellte »was zu trinken bitte«. Kaum hatte er das Weinglas vor die Nase, überkam ihn die große Müdigkeit. Er legte den Arm auf die Theke, den Kopf darauf, wobei er das Glas über den Tresen bis zur Kante über den gespülten Gläsern schob. Manni schob das Glas ein Stück zurück, aber kaum hatte er Achim den Rücken zugewendet, hörte er es klirren. »Noch ein Glas!«, sagte der Gast. Manni schenkte noch einmal nach, schob das Glas in die Mitte des Tresens und räumte die Splitter beiseite. Kaum war alles sauber, zersprang das zweite Glas. »Noch was zu trinken bitte!«

»Jetzt reichts«, sagte Manni, dem dieses kollektive Theater allmählich auf die Nerven ging. Es entspann sich ein Wortgeplänkel, bis der gestandene Gastwirt ein Wurfgeschoss auf sich zufliegen sah. Er konnte gerade noch den Kopf einziehen, dann sauste der kiloschwere Porzellanaschenbecher in das Regal mit den Flaschen.

Wenig später zerrte er die einzige Kundschaft des Godots auf die Straße hinaus, just in dem Moment, als das Kollektiv vorbeikam, um nach dem Rechten zu sehen. »Hey, Manni, was machst du denn da? Lass mal den Achim in Ruhe, das ist einer unserer besten Kunden!« Manni überlegte, ob so ein Kollektiv das richtige für ihn war.


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg