Kreuzberger Chronik
Februar 2022 - Ausgabe 236

Strassen, Häuser, Höfe

Die St. Simeonkirche - Wassertorstraße 21a


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von Ina Winkler

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Ebenso wie in der benachbarten Moritzstraße wurden auch in der Wassertorstraße die meisten Gründerzeithäuser am 3. Februar 1945 zerstört. Heute steht kein einziges der alten Wohnhäuser mehr, auf beiden Straßenseiten nichts als die schmucklosen Fassaden deutscher Nachkriegsbauten, hinter denen sich niedrige Dreizimmerwohnungen mit Linoleumfußböden verbergen. Wie ein mahnend erhobener Zeigefinger aber sticht aus dieser Häuserzeile ein 76 Meter hoher Kirchturm heraus, ein letztes, backsteinernes Relikt aus vergangenen Zeiten. Als hätte Gott seine schützende Hand über ihn gehalten, blieb er von den Bomben weitgehend verschont, ebenso wie die 84 Kinder, die in die massiven Keller unter dem Turm geflüchtet waren.

Das hohe Portal aus braunen und grünen Glasursteinen mit der mächtigen Holztür, flankiert von den auf zwei schlanken Türmen stehenden Figuren von Hannah und Simeon, ist beeindruckend. Geschaffen wurde es vom königlichen Baurat Franz Schwechten, der auch Berlins berühmteste Kirche, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, entworfen hat.

Die drei tonnenschweren, 1897 vom Bochumer Verein, der berühmtesten Glockenschmiede Deutschlands, gegossenen Kirchenglocken fielen weder dem Krieg noch den Waffenschmieden Hitlers zum Opfer und läuten noch heute, wie Glockenfans bestätigen, »mit voller BVG-Wucht«. Doch so eindrucksvoll Glocken und Turm auch sein mögen: Eigentlich sollte alles noch viel, viel beeindruckender werden.

Die Geschichte der St.-Simeon-Kirche beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Stadt platzte gerade aus allen Nähten. Straßen, Häuser, Parkanlagen, die Kirchen -alles wurde zu klein für die Menschenmassen aus den ländlichen Regionen, die auf der Suche nach Arbeit einwanderten. Auch die Luisenstadt-Gemeinde konnte dem Ansturm der Menschenmassen nicht standhalten, jedes Jahr zählte man Tausende neuer Mitglieder. Die Kirche war zu klein geworden für die wachsende Gemeinde, und so entstanden neben der Luisenstädtischen noch die Thomas-und die St.-Jakobi-Gemeinde. Als auch St.-Jakobi innerhalb kurzer Zeit mehr als 60.000 Seelen zählte, wurde als ihre Tochtergemeinde 1868 die Simeongemeinde gegründet. Doch bis diese ihre Kirche in der Wassertorstraße einweihen konnte, vergingen 29 Jahre.

Die Gemeinden waren arm, und die Mitgift für die jüngste Tochtergemeinde bestand aus 166 Mark in bar sowie Aktien im Wert von 150 Mark und einem Grundstück in der Wassertorstraße, das mit 30 Metern Breite eher schmal und eigentlich ungeeignet für einen Kirchenbau war. Hinzu kam, dass es dem König am Geld zu fehlen schien, denn obwohl er das Patronat übernahm und der Gemeinde und der Kirche ihren Namen gegeben hatte, weigerte er sich, für die Baukosten aufzukommen. Er war der Meinung, dass die Stadt dafür zuständig sei. So weihte die kleine Gemeinde am 9. Mai 1869 zunächst eine hölzerne Behelfskirche in der Wassertorstraße ein, die Platz für 650 Seelen bot. Ursprünglich war eine Kirche mit 1500 Sitzplätzen geplant.

Die Vision Schulzes von St. Simeon am Wassertor

Während um die Finanzen gestritten wurde, kam Friedrich Otto Schulze von der Bauakademie und legte einen kühnen, wenn nicht phantastischen Plan vor: Er verlegte den geplanten Kirchenbau von der Wassertorstraße direkt ans Wassertor, wo er das Gotteshaus auf einer gewaltigen Brücke über dem Kanal errichten wollte. Die Vorstellung von zwei sich gegenüberliegenden Kirchengebäuden am jeweiligen Ende der langen Uferpromenaden überzeugte sogar Berlins Chefdesigner James Hobrecht. Er war der Ansicht, dass »eine Kirche an dieser Stelle ganz wesentlich zur Verschönerung und Ausbildung eines architektonischen Abschlusses der Stadtteils nach Süden dienen« würde.

Schulzes Vision imponierte nicht nur dem Fachmann, sondern auch dem König und den Stadtoberen. Sie waren begeistert von der hohen Kuppel in der Mitte des Gebäudes, umstellt von einem Ensemble aus Türmen und Türmchen, das »weithin sichtbar« gewesen wäre auf diesem großen, freien Platz, der nicht im geringsten mehr an eine Brücke erinnert hätte – abgesehen von den Schiffen, die durch zwei steinerne Bögen unter der Kirche hätten hindurchtauchen müssen.

Doch so wunderbar Friedrich Otto Schulzes Entwurf auch war, der am südlichen und am nördlichen Ende der schnurgeraden Wasserstraße zwei grandiose Schlusspunkte gesetzt hätte, so teuer war er auch. Und obwohl Gemeinde und Magistrat bereits zugestimmt hatten, reichte das Veto einiger zaghafter Konservativer aus, die Idee niemals Wirklichkeit werden zu lassen.

Wieder musste Kaiserin Auguste Viktoria, die bereits die Taborkirche unter ihre Schirmherrschaft gestellt hatte, eingreifen. Sie beauftragte Franz Schwechten mit einem Entwurf, der die Kirche zwischen die Häuser der Wassertorstraße einordnen sollte. 25 Jahre nach der Gründung der Gemeinde wurde die hölzerne Kirche – ähnlich wie etwa 100 Jahre später der Kaisersaal am Potsdamer Platz -auf Holzrollen von der Straßenfront in den hinteren Teil des Grundstücks verschoben, damit die Gläubigen während der Bauzeit beten und beichten konnten. Die Kaiserin persönlich legte den Grundstein für den schmalen Bau mit dem hohen Kirchturm, dem letzten Zeugen aus einer Zeit, als Architekten noch wirkliche Visionen hatten -auch wenn diese niemals Wirklichkeit wurden. •

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