Kreuzberger Chronik
Februar 2022 - Ausgabe 236

Kreuzberger
Gerd Conradt

Ich kann nicht aufhören


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Hedwig Korte

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Es ist ein sakraler, meditativer, beschwörender Gesang, eine Schleife aus kreisenden Wiederholungen von Worten und Melodien, eine Art musikalisches Mandala: »Ich spiele Maultrommel in Berlin … Berlin….. Berlin... ,Sonne und Sterne, Sterne…. Sterne….-Kottbusser Tor….Tor…. Tor…. - Maybachufer…. ufer…. ufer…. –

So tritt er uns bei Youtube entgegen: Gerd Conradt, hinter ihm im hölzernen Regal tibetische Klangschalen, kleine Glöckchen in langen, bunten Stoffstreifen am Hemd, die wie eine Ziegenherde leise bimmeln, wenn er sich bewegt, und eine Maultrommel zwischen den Lippen. Neben ihm ein junger Musiker mit Kopfhörer, ein Tontechniker am aufgeregt blinkenden Mischpult, das den dumpfen Techno-Rhythmus der Berliner 90er Jahre vorgibt.

In einem anderen Film steht Conradt in der Elbland Philharmonie neben dem Dirigenten eines großen Orchesters vor Bläsern, Geigern und Cellisten. Das war ein großartiger Moment, wie er da mit seiner winzigen Stimmgabel auf einer Bühne steht, auf der die Musiker sonst hinter Notenblättern verschwinden. Es war, als wäre das Instrument, das keine Noten kennt und das nicht in Opernhäusern und Kammersälen zuhause ist, sondern in Steppen und Wüsten umherschweifender Hirten, endlich angekommen in der großen Welt der Musik.

Es freute ihn, wenn diese Leute, die die Maultrommel nie ernst genommen und stets belächelt hatten, jetzt applaudierten. Leute wie sein Bruder, der Chorsänger, oder seine Schwester, die Cellospielerin. Gerd hatte mit ihnen spielen wollen, aber immer schüttelten sie die Köpfe. Das sei doch keine Musik. Es war eine Genugtuung, ihnen den Film aus der Philharmonie zu schicken. Vierzig Jahre, nachdem er ihnen zum ersten Mal von der Maultrommel vorgeschwärmt hatte.

Das war Ende der Vierzigerjahre gewesen, in Großbreitenbach in Thüringen, wohin die Familie aus den Ländern jenseits der Oder hatte flüchten müssen. Großbreitenbach nach dem Krieg, ein Ort mit 3000 Seelen, in dem die Großmutter lebte, die im Wald Pilze sammelte, Beeren pflückte, jedes Kraut und jedes Hausmittel kannte. Ein Ort, in dem jeder noch eine Kuh im Stall hatte, in dem die Häuser so dicht beieinander standen, dass die Rindviecher gerade noch zwischen ihnen hindurch passten. Und in dem er jeden Morgen vom Läuten der Kuhglocken geweckt wurde, wenn die Hirten die versammelten Kühe von Großbreitenbach durch die Dorfstraße auf die Wiesen trieben, mit lauten Rufen und dem Peitschenknallen dicker Lederknoten. Lange hatte der Junge davon geträumt, einmal mit ihnen gehen zu dürfen, doch Gerds Mutter kam aus besserem Hause und beobachtete die Liebe des Sohnes zu Wald und Tieren skeptisch. Doch eines Tages packte die Großmutter eine Jause mit Stullen und Himbeersaft für Gerd, und dann lief er mit den Hirten aus dem Dorf hinaus. »Und da, im Schatten eines Baumes, wo wir Rast machten, da holte einer von denen eine Maultrommel heraus und spielte.«

Das war der entscheidende Moment im Leben von Gerd Conradt. »Ich war sieben oder acht Jahre alt und wollte Förster werden oder Hirte.« Der Gedanke, das Dorf zu verlassen, ist ihm nie gekommen. Die Welt war schön, auch wenn es »immer nur Kartoffeln gab. Mein Vater war ein studierter Landwirt, Spezialist für Kartoffelanbau. Die Linda und die Adretta gehörten sozusagen zur Familie.« Gerd Conradt liebt Kartoffeln. »Meine Frau geht jeden Samstag auf den Öko-Markt am Chamissoplatz, da gibt es die Talent! Eine wunderbare Kartoffel, fest, dicke Schale, ideal für Pellkartoffeln, und ein Aroma, phantastisch!«

Gerd und seine Familie wären vielleicht ewig geblieben in Großbreitenbach, aber der Vater eckte immer wieder an mit dem Sozialismus. Er war nicht damit einverstanden, dass man die komplette Landwirtschaft verstaatlichte. 1955 schickten sie ihren Jungen nach West-Berlin auf ein evangelisches Internat am Schlachtensee. Die erste Maultrommel seines Lebens blieb in der DDR zurück. Als wenige Jahre später eine Mauer mitten durch das Land gezogen wurde, sagte Mutter Conradt zu ihrem Mann: »Paul, wir packen die Koffer!«

Als die Mauer wieder abgerissen wurde, hatte Gerd Conradt wenig Eiligeres zu tun als nach Großbreitenbach zu fahren und nach Zella-Mehlis, wo noch immer der Schlütter wohnte, Maultrommelschmied in dritter Generation. Der baute Hirtenhörner und stand mit seinen Instrumenten auf dem Bauernmarkt. Conradt wollte einen Film über ihn drehen, aber er fand keinen Produzenten. Conradt hat viele Filme gedreht, auch einen über Großbreitenbach, die alte Heimat, die er so abrupt hatte verlassen müssen. »Mit Hans Rombach, der jetzt wieder bei mir um die Ecke in der Bergmannstraße wohnt, haben wir BlaubeerWald gedreht. Nach 1989 war ja plötzlich die ganze Welt in Berlin versammelt. Auch die Japaner, und die wollten unbedingt einen Film über die alte DDR.« Conradt hatte das Exposé für sein Breitenbach-Porträt schon in der Tasche.

Es war ein Ereignis, als plötzlich ein Filmteam im Dorf auftauchte. »Die lokale Presse berichtete täglich über die Dreharbeiten. Zur Erstausstrahlung im japanischen Fernsehen bin ich sogar nach Tokio geflogen. Und als dann der MDR den Film in Deutschland ausstrahlte, saß das ganze Dorf vorm Fernseher.«

Ans Filmen hatte der kleine Gerd so wenig gedacht wie an ein evangelisches Internat in Westberlin. Es gefiel ihm auch nicht gut in Schlachtensee. Die anschließende Lette-Schule mit der Fotografie-Klasse war eine Erlösung. »Das hat mir richtig gut getan!« Obwohl die Kamera bei Dokumentarfilmen eine knifflige Sache ist. »Das ist eine ziemliche Verantwortung, wenn Du da einen Fehler machst, kannst Du die Szene ja nicht einfach noch mal drehen wie im Spielfilm!« Aber er drehte, Film um Film, beim ZDF, SFB, RBB, über die Spree, über Gretchen Dutschke oder Holger Meins. Und natürlich über Maultrommeln.

Er war, trotz aller Poesie im Leben, ein politischer Mensch. Er hatte die Besetzung des Bethanien miterlebt, kannte die Eckkneipen mit Mollen und Eisbein und saß mit den Kreuzberger Lebenskünstlern in der Kleinen Weltlaterne in der Kohlfurter Straße oder bei Kurtchen im Leierkasten. Er drehte viel, verbrachte Jahre nur mit dem Schneiden und sah immer wieder den gleichen Film über das gleiche Leben und schnitt alles zusammen, bis der Streifen endlich kurz genug war für das Format. Und während er so das Leben der anderen betrachtete, beschlich ihn das Gefühl, das eigene zu verpassen. Er geriet in eine Krise und flüchtete sich in die Musik, eine Welt ohne Worte und ohne Bilder. Begann mit dem Obertonsingen, lernte einen Gesangslehrer kennen, der Maultrommel spielte. Irgendwo in Italien nennen sie das Instrument den »Gedankenfänger. Der fängt die abschweifenden Gedanken wieder ein!« Genau das brauchte er jetzt. So trat es wieder in sein Leben, das kleine, unscheinbare Instrument.

»Und dann gab es in der Kirche am Maybachufer ein Konzert mit Musikern aus Tuwa, Obertongesang und Pferdekopfgeige. Ich glaube, es waren fünf Zuhörer gekommen, bestenfalls sechs. Und ich war vollkommen begeistert. So was hatte ich im Leben noch nicht gehört!«

Die Musiker aus dem Süden Sibiriens wollten, dass Conradt einen Film über ihren Auftritt beim Musikfestival in Tuwa dreht. »Ich dachte, wenn ich da wirklich hinfahre, wer weiß, ob ich jemals wieder zurückkomme. Ich habe tatsächlich vorher mein Testament gemacht! Ich wusste ja nicht einmal, wo dieses Land liegt! Und dann sitzen wir in diesem Militärflugzeug auf hölzernen Bänken, zwischen Menschen und Tieren und Pappkartons und fliegen von Moskau nach Kysyl, in die Hauptstadt von Tuwa. Landen auf einer holprigen Wiese irgendwo am Ende der Welt, das Empfangskomitee reicht Wodka in großen Gläsern und erklärt, dass wir jetzt erst mal ordentlich essen und trinken, dann in die Sauna gehen und anschließend im Jenissei baden, einem riesigen Fluss! Ein Glück, dass ich mein Testament hatte!«

In Jakutien, mit Juliana Kriwoschapkina

Und dann war alles wunderbar, der Film lief auf der Berlinale. Und die Musiker kamen von überall, auch eine Gruppe von Maultrommelspielern aus Jakutien. Wieder so ein Land, von dem er noch nie gehört hatte, »ganz am Ende«, hinter der Mongolei. Dort liegt die Heimat der Maultrommel. »An jeder Schule wird da noch Maultrommel unterrichtet!« Natürlich kommt auch Spiridon Schischigin, der berühmteste Maultrommelspieler der Welt, von dort. »Damals schenkten sie mir eine Khomus, eine jakutische Maultrommel. Das war´s dann!«

Sie waren noch nicht lange zurück in Deutschland, da erhielt er ein Schreiben des Bildungsministeriums aus Jakutsk, der Hauptstadt Jakutiens. Man fragte an, ob er für einige Wochen als Deutschlehrer nach Jakutsk kommen wolle. Es gäbe auch die Möglichkeit, den berühmten Schischigin persönlich kennenzulernen. »Deutsch war ja die erste Fremdsprache in der Sowjetunion. Wegen Marx und Engels. In der Mongolei, in Kirgisien, überall wurde Deutsch unterrichtet.«

Also flog er ins Sommerferienlager nach Sibirien und unterrichtete seine Schüler mittels der Bildzeitung, weil die »so schöne, große Lettern hatte!« Und verbrachte einige Tage mit dem Gott der Maultrommel. Der wollte ihn gleich zu seinem Manager machen. Aber Gerd Conradt ist kein Manager. Wenn Conradt etwas macht, dann aus Leidenschaft. So, wie sein Vater aus Leidenschaft Kartoffeln anbaute. Das spürten offensichtlich auch die Jakuten und reihten eine Fotografie des Kreuzbergers in die Galerie der berühmtesten Maultrommler im Maultrommelmuseum der jakutischen Hauptstadt ein.

Die neue Leidenschaft ließ ihn nicht mehr los. Die jakutische Maultrommel wurde seine ständige Begleitung. Manchmal ist er mit einem ganzen Koffer voller Maultrommeln unterwegs. 1999 gründete er den ersten Berliner Maultrommelstammtisch, der sich unter den Yorckbrücken im Umsteiger traf. Er kann einfach nicht aufhören. »Das macht süchtig, dieses ständige tiefe Ein- und Ausatmen: Nach zehn Minuten hast Du so viel Sauerstoff im Blut, da bist Du high!«

Kürzlich ist er achtzig Jahre alt geworden, der Botschafter der Maultrommel. Mäzen einer Musik, die aus fernen Welten zu uns herübergeklingt, von den Yaks des Himalayas bis zu den Kühen von Großbreitenbach. Gerd Conradt sitzt in der Osteria in der Kreuzbergstraße, der ersten Osteria Berlins, in der einst die ersten Grünen beisammen saßen und daran dachten, eine Partei zu gründen. Er hat gegessen und getrunken, zieht die Maultrommel aus der Jackentasche, ein silbernes Kunstwerk mit der Form einer Geige. Klemmt es zwischen die Lippen und formt Töne. »Ich kann nicht aufhören. Was soll ich sonst tun? Mich über Enkelkinder und Krankheiten unterhalten?«

Auch mit dem Filmen kann er nicht aufhören. Er dreht immer weiter, auch wenn er die Geschichten aus der DDR und der Welt der Maultrommler schon erzählt hat. Sein letzter Film spielt deshalb nicht in Asien oder Thüringen und auch nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Er beobachtet die Videokameras am Bahnhof Südkreuz, erzählt von der totalen Überwachung. Conradt ist ein politischer Mensch. Aber seine große Liebe ist die Maultrommel.

Im Juli wird er wieder mit ihr auf der Bühne stehen. Da treffen sich Maultrommler aus aller Welt in der Ufa-Fabrik. »Das ist eher so eine Art Geheimtreffen, alle vier Jahre, immer an einem anderen Ort irgendwo auf der Welt, genau wie die Olympiade.« Im Sommer werden die weltbesten Maultrommelspieler aus den höchsten Bergen herabsteigen in die Niederungen der Spree. Künstler, zu denen Conradt voller Bewunderung aufschaut. »Da, wo die sind, komme ich nie hin!«, sagt der alte Mann in der Osteria und setzt die Maultrommel an und spielt, so dass es einen Moment lang still wird in der plappernden Osteria mit ihrem klappernden Geschirr und ihren aufgeregten Italienern. Spielt so leidenschaftlich, dass man ins Zweifeln kommt, ob dieser Mann aus Großbreitenbach nicht doch vielleicht eigentlich aus den höheren Sphären des Himalaya kommt.

Sein Leben ist eine Schleife, ein Kreis. Alles ist noch einmal wiedergekommen, Breitenbach, die Maultrommel, die Kartoffel. Es scheint alles folgerichtig zu sein in diesem Leben. Seit jenem Tag, als der Kuhhirte im Schatten des Baumes die Maultrommel aus der Tasche zog. •

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