Kreuzberger Chronik
Juli 2021 - Ausgabe 231

Reportagen, Gespräche, Interviews

Schach ums Tempelhofer Feld


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von Hans W. Korfmann

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Sogenannte Feldlotsen, Nachfolger der Fluglotsen auf dem Gelände des stillgelegten Flughafens Tempelhof, erteilen Besuchern auf Berlins größter Spielwiese Auskunft. Sie sitzen in einem roten verglasten Pavillon am Rand der nördlichen Landebahn, können ihr Publikum aber nur »im Umfeld des Pavillons« empfangen, wie ein Zettel an der Wand verkündet. Obwohl die Infobox quasi bezugsfertig ist und demnächst eine Ausstellung über die verschiedenen Entwicklungen auf dem Feld eröffnet werden soll, darf niemand hinein. »Es gibt da«, sagt die Studentin, »einen Streit um ein paar Zentimeter!« Sie deutet auf den Zementsockel einer Treppe, der auf die alte Landebahn betoniert wurde. Genaueres weiß sie auch nicht und sie ist sich auch nicht sicher, ob sie überhaupt Auskunft darüber geben darf.

Anfang des Jahres stand an der Stelle des Pavillons noch ein Container, der problemlos abtransportiert werden konnte, sodass der ursprüngliche Zustand des Feldes jederzeit wiederhergestellt werden konnte. So, wie das Tempelhof-Gesetz, das feste Bauten auf dem Feld verbietet, es vorsieht. Jetzt aber hat das Infozentrum auf dem Feld ein ziemlich solides Betonfundament erhalten und ist damit beinahe schon so etwas wie ein neu errichtetes Gebäude. Das widerspräche dem von den Bürgern beschlossenen Gesetz zum Erhalt des Tempelhofer Feldes, wie es mit vollem Namen heißt, das nicht einmal Anbauten an bestehende Gebäude erlaubt - geschweige denn Neubauten.

Folglich schlichen die Verteidiger der Naturlandschaft, insbesondere die Mitglieder von Tempelhof 100, die seit der Schließung des Flughafens um den Erhalt der großen Wiese kämpfen, mit Argusaugen und gezücktem Zollstock um die eingezäunte Baustelle. Die Bürger sind auf der Hut, denn immer wieder versucht die senatseigene Gartenbaufirma, die Grünberlin GmbH, kleinere Stellen Grün in kleinere Stellen Grau, Grünland in Grauland zu verwandeln, Zentimeter und Zentimeter, Schachzug für Schachzug: ein blamables Geschachere.

Offensichtlich wird bei diesem Spiel nicht gern mit offenen Karten gespielt. Christiane Bongartz ist Mitglied von Tempelhof 100 und sitzt seit Jahren im Ausschuss der Feldkoordinatoren, einem Zusammenschluss aus Vertretern des Senats, der grünen GmbH und der Bürger. Dieses monatlich tagende Gremium entscheidet über das Aufstellen neuer Bänke, das Pflanzen neuer Bäume, über Schafe, Zirkuszelte und Wohncontainer auf dem Feld. Bongartz schmunzelt, wenn sie sagt: »Die Vertreter der Grün Berlin GmbH sind auf diesen Sitzungen zwar immer sehr bemüht, trotzdem besitzt die Firma die Transparenz einer Milchglasscheibe!«

So wurde in einer der Sitzungen auch nur ganz nebenbei erwähnt, dass der Info-Container an der Nordbahn durchgerostet sei und dass »Instandsetzungsarbeiten« geplant seien. Dass der alte Container komplett ausgetauscht, auf einem festen Fundament stehen und um einiges größer ausfallen würde, ging aus dieser Formulierung nicht hervor. Als die Bürgervertreter das Fundament abmaßen, stellten sie fest, dass die Grundfläche größer geworden war. Sie protestierten, der Bagger rollte an, Teile des Fundamentes wurden wieder herausgerissen .... Doch noch immer überschreitet der Container das Gesetz um zehn Quadratmeter. Deshalb war die Infobox auf dem Feld auch Ende Mai noch immer geschlossen.

Natürlich geht es bei dem Streit nicht um 10 Quadratmeter Grün auf einer fast 400 Hektar großen Steppe. Es geht ums Prinzip. Es geht darum, ob hier überhaupt gebaut werden darf. Es geht darum, dass der Senat die Wahl der Bürger nicht akzeptieren möchte.

Denn seit die Berliner im ersten erfolgreichen Volksentscheid der Stadt im Mai 2014 mit 739.124 für den Gesetzentwurf der Bürger-initiative zum Erhalt des Tempelhofer Feldes stimmten, ist Bauen tabu. Seit diesem Tag versucht der Senat - allen voran die ehemalige Volkspartei SPD mit ihrem ehemaligen Bausenator Michael Müller – das Tempelhof-Gesetz zu unterlaufen und aufzuweichen. Der Kinderzirkus Kabuwazi oder die Container des Flüchtlingslagers durften nur aufs Feld, weil sie mobile Bauten darstellten. Die angeblichen Tempohomes für Flüchtlinge, die nur einen Sommer lang ausgelastet waren und laut Tempelhof-Gesetz bereits im Dezember 2019 wieder hätten abgebaut werden müssen, sind zu einer Dauereinrichtung geworden. Während andere Flüchtlingslager in der Stadt demontiert wurden, blieb Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft in Tempelhof als »Reserve« für eine mögliche »zweite Welle« stehen. Angesichts der dramatischen Situation in den griechischen Flüchtlingslagern erhob die Bürgerinitiative jedoch keinen Einspruch. Ebenso wie sie den Kinderzirkus duldete, der nach Ablauf der gesetzlichen Frist eigentlich seine Zelte hätte abreißen und weiterziehen müssen.


So wird gepokert und geschachert auf dem Feld. Man belauert sich, misstraut sich. Die Skeptiker in den Bürgerreihen sehen in den Containern bereits die Vorboten einer neuen Wohnsiedlung. Selbst in den friedlich grasenden Schafen und Rindern der Grün Berlin GmbH vermuten sie die Vorhut der feindlichen Armee. Die Tiere sind in ihren Augen keine Ergänzung der ländlichen Idylle, sie fungieren als Platzhalter. Die Zäune auf dem Feld schützen nicht nur Gänseblümchen und Feldlerchen vor Sonnenbadern oder Hundebesitzern, sie schützen auch immer mehr Flächen des Feldes vor dem Zugriff durch die Bevölkerung. Sie zäunen ein Grundstück ein, das Grün-Berlin mit der Attitüde eines spießigen Privatbesitzers verteidigt. Obwohl dieses Land doch eigentlich den Berlinern gehören sollte. So zumindest hatte das der Regierende Bürgermeister Wowereit einmal verkündet.

Doch schon 2009 schrieb der Senat noch voller Stolz: »386 Hektar Freiraum mitten in der City! Kennen Sie eine Weltstadt, in der den Stadtplanern in unmittelbarer Nähe zum Zentrum mehr als drei Millionen Quadratmeter zur Verfügung stehen?« Das war eine deutliche Ansprache in Richtung begeisterter Stadtentwickler und Architekten. Dr. Franz Schulz, zur selben Zeit erster grüner Bürgermeister in Kreuzberg, schrieb dazu: »Das klingt nicht nur wie eine Drohung, inzwischen wird damit auch Ernst gemacht. Die zukünftige »Parklandschaft Tempelhof«, als öffentliche Grünfläche, ist zwischenzeitlich um fast die Hälfte auf 220 Hektar geschrumpft, die Anzahl der geplanten Baubiete hat zugenommen. Insbesondere das ursprünglich nicht vorgesehene »Columbiaquartier«, benachbart zu Kreuzberg, wird wie ein Korken im Flaschenhals zwischen dem Kaltluftgebiet Tempelhofer Feld und den angrenzenden Kreuzberger Stadtgebieten bis zum Südstern wirken. Die Luftströme Richtung Norden werden damit effektiv unterbrochen.«

Wie wichtig die grüne Oase in der Stadtmitte ist, das ist inzwischen nicht mehr diskutierbar, sondern deutlich spürbar. In den letzten drei Jahren hat der Klimawandel deutlich gemacht, was uns erwartet. Dennoch wird gerade jetzt am östlichen Ende des Feldes ein Betonriegel vor die ehemalige Einflugschneise des Flughafens geschoben. Die kühle Luft, die vom Feld durch den langgestreckten Grünzug von der Oderstraße bis zur Hermannstraße floss, wird künftig nicht mehr fließen. Bei zu erwartenden Sommertemperaturen von über 40 Grad ist das kein Spaß mehr. Auch ästhetisch ist der Neubau anstelle der alten Friedhofsmauer und der niedrigen Backsteingebäude unter den alten Kastanien ein einziges Verbrechen.

Die Investoren, die Planungsbüros und ihre Politiker sehen das naturgemäß anders. Sie brauchen Bauland. Bauland ist ihre Existenzberechtigung. Deshalb kämpfen sie um jede Brache, mit viel Geduld und allen Mitteln. Sie haben den Volksentscheid von Tempelhof nie akzeptiert. Ebensowenig wie SPD oder CDU. Die Bebauung ist nicht erst jetzt vor den Wahlen wieder ins Gespräch gekommen, sondern, wie Christiane Bongartz meint, »immer im Gespräch gewesen. Der Senat ist eigentlich permanent damit beschäftigt, dieses Feld zu bebauen.« Unterstützung erhält er dabei von Unis in Darmstadt oder Amsterdam, von Architekturbüros und grünen Baugenossenschaften, die in regelmäßigen Abständen ihre Pläne von der Umgestaltung des Felds veröffentlichen. »Auf die Idee, Pläne zur Begrünung der A 100 zu veröffentlichen, kommt niemand.« Das ist kein Zufall, das ist ein ausgeklügeltes System, bei dem die Presse ordentlich mitmischt.

Weniger ausgeklügelt ist dagegen die Idee der FDP, die mit dem Sammeln von Unterschriften für die Bebauung des Feldes begonnen hat. Das dürfte ins Auge gehen, zum einen, weil ein Volksbegehren vom Volk ausgehen muss und nicht von einer politischen Partei. Es wäre zu prüfen, ob eine Partei überhaupt zu einer solchen Aktion berechtigt ist. Davon abgesehen geriet die FDP als ewiger Handlanger und traditioneller Kooperationspartner der SPD sofort in den Verdacht, von der SPD gekauft und nur vorgeschickt worden zu sein, um eine abermalige Blamage der alten Volkspartei zu verhindern.

Mareike Witt von Tempelhof 100 brachte es im Deutschlandfunk auf den Punkt. SPD und CDU würden sich doch ins Fäustchen lachen, »wenn sich die FDP ein blaues Auge holt«. Besorgt sei sie viel mehr darüber, »dass demokratische Entscheidungen wie der Volksentscheid immer wieder hinterfragt werden, und dass durch das Immer-wieder-darüber-reden auch Dinge ins Dasein gesprochen werden.«

Der Tagesspiegel jedenfalls war sich im April sicher, dass »die Stimmung kippt«. Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts Civey - Werbeslogen: Erfahren Sie, was Deutschland denkt! - hätten drei von fünf Befragten sich für eine Bebauung ausgesprochen, die meisten von ihnen FDP- und SPD-Wähler. Dennoch ist man auf dem Feld optimistisch, dass ein neuerlicher Volksentscheid kein anderes Ergebnis bringen wird der vom September 2014. Die große Spielwiese vor dem alten Flughafen ist viel zu beliebt geworden bei den Berlinern. Die Möglichkeiten, die das Feld ihnen bietet, finden sie weder im Tiergarten noch im Britzer Garten. Das beweisen auch die Besucherzahlen, mit denen Grün Berlin äußerst sparsam umgeht. In den ersten Jahren spielte der Senat die Besucherzahlen herunter und kritisierte, dass es an Freizeitangeboten fehlte. Doch selbst die offiziellen Besucherzählungen sind eindeutig: Zählte man 2012 an den Sonntagen durchschnittlich noch 16.000 Besucher, waren es zwei Jahre später bereits doppelt so viele. Am 30. Mai 2021 standen 82 Freiwillige aus dem Bekanntenkreis der Bürgerinitiative an den neun Eingängen zum Tempelhofer Feld, um eine eigene Zählung durchzuführen. Von so viel freiwilligen Helfern kann die FDP nur träumen. Es war ein sonniger Sonntag, und am Abend waren es mehr als 70.000 Menschen gewesen, die das Feld aufgesucht hatten. An Spitzentagen dürften über 100.000 sein! Mehr als irgendwo sonst in Berlin.

Die FDP interessiert das nicht. Sie plant eine »behutsame Randbebauung« und meint damit die klassischen Zementquader »entlang der Außengrenzen des Parks, rund 12.000 Wohnungen« auf 100 Hektar - einem Drittel der Gesamtfläche. Ein Schreckensszenario: Das weite Feld würde zu einem kleinen Innenhof verkommen. Ein Blick in den von Neubauten umzingelten Gleisdreieckpark mit seinen Privatzugängen für Eigenheimbesitzer lässt ahnen, wie das Feld nach einer Aushebelung des Thf-Gesetzes aussehen könnte.

Es fällt schwer, zu glauben, dass von der Naturlandschaft etwas erhalten bleibt, wenn die Architekten erst einmal ihre Laptops aufgeklappt haben. Wo jetzt noch Mensch und Tier die Landschaft gestalten, wo die Natur noch freien Lauf hat, werden künftig Regeln und Verbote, strenge Linien und Gesetze der Geometrie das Bild bestimmen. Es wird kein Grillfeuer mehr geben, keine Drachen, keine Surfer, keine Skater, keine Gettoblaster, keine Tänze, keine Saxophonisten, keine Nudisten, keine Kleingärtner, keine Trampelpfade und keine Kinder, kurz: keine Tempelhofer Freiheit. •





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