Kreuzberger Chronik
September 2020 - Ausgabe 222

Geschichten & Geschichte

Hegel? Ein Rebell?


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von Eckhard Siepmann

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Hegel, der Superphilosoph. Er verbrachte am Ende seines irdischen Daseins einige Wochen am Kreuzberg. Aber ist er deshalb gleich ein Kreuzberger? Bewohner eines Stadtteils, den es damals noch gar nicht gab?

Was macht Kreuzberg aus? Das Greifbarste an Kreuzberg ist ohne Zweifel sein Mythos. Er zieht immer noch Massen von Touristen an. In Kreuzberg wohnen laut Mythos die Unangepassten, die Sehnsüchtigen, die, die was Neues aus der Taufe heben, die, die sich wehren, die einen Supermarkt anzünden, die sich was in den Arm spritzen. Und wer die Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990 am Ort erlebt hat, der weiß, dass der Mythos gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war. Damals.

Was von diesem rebellischen Kreuzberg soll nun in diesem staatsbejahenden, preußenbegeisterten, tränensäcketragenden Hyperphilosophen stecken? Was schrieb dieser Mann – auf den ersten Blick - nicht alles für einen Mist!? »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.«

Da lacht doch der Kreuzberger, und der Mythos wiehert mit. »Das Wahre ist das Ganze« - das würde der Kreuzberger doch noch für ein volles Bierglas gelten lassen! Für das freiheitliche Engagement der Studenten und Burschenschaftler hatte der Denker nichts übrig. Der preußische Staat, er lebe hoch! So einen Mann kann man echt vergessen.

Aber nun Gegenverkehr. Dieser Philosoph war der reinste Widerspruch. Und er war sogar der Denker des Widerspruchs schlechthin! Ein Biograph schrieb über ihn: »Es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution wäre wie die Hegels.« Wie bitte? Hegel, unser Preußen-Bejubler? Und im übrigen: Gab es da nicht einen Marx?

Das Umstürzlerische und damit Kreuzbergerische an Hegel ist die Heftigkeit, mit der er die Kraft der Negativität pries. Was heißt das? Für Hegel existiert nirgendwo in der Welt ein haltbarer Status quo. Alles unter der Sonne - sogar der Himmelskörper selbst - trägt in sich seine Negation, sein Verschwinden, alles negiert sich selbst. Alles ist »an sich das Andere seiner selbst«, es wird «über das, was es unmittelbar ist, hinausgetrieben«, bis es »in sein Entgegengesetztes umschlägt.« »Was überhaupt die Welt bewegt, das ist der Widerspruch.« Und er gibt jeder Kulturrevolution das Motto an die Hand: »Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand.« Und so munter weiter. Hegel macht den geliebten Widerspruch auch formal zum Motor seines Denkens: Sein gesamtes Werk folgt einer Dialektik, in der die These stets mit einer Antithese einhergeht, die am Ende die These verschlingt. So entsteht Neues, das Alte wird »aufgehoben«. Als Beispiel führt Hegel den Herrn und den Knecht an: Der Herr hat das Sagen; aber indem der Knecht arbeitet, macht er Erfahrungen, erwirbt Kenntnisse, die ihn schließlich über den Herrn hinausheben.

Wir können uns die roten Ohren des jungen Marx beim Lesen solcher Passagen vorstellen. Er ist begeistert, wenn auch nicht restlos. Hegel muss noch »vom Kopf auf die Füße gestellt« werden: Der Werkzeugkasten der dialektischen Methode bleibt, aber an die Stelle des absoluten Geistes tritt nach einer Drehung der Klassenkampf.

Wenige Wochen vor seinem Tod nahm der ewige Widerspruch in Hegel – die Befürwortung des bestehenden Staates einerseits und die theoretische Dauerflamme der Negation andererseits – eine noch kaum ausreichend gewürdigte Wendung. Und das ausgerechnet in seiner kurzen Zeit am Kreuzberg! Als 1831 die Cholera auch Preußen erreichte, verließ der Denker seine Wohnung am Kupfergraben 4a, gleich neben dem heutigen Wohnsitz der Bundeskanzlerin. Er mietete sich für den Sommer am Kreuzberg ein, unterhielt sich im Tivoli angeregt mit den Anwohnern und sauste Arm in Arm mit Marheineke oder Schleiermacher in den kleinen Wägelchen des Vergnügungsparks auf Schienen den Berg hinunter. Da geschieht der Wandel!

Einem Freund, der ihn politisch aufrütteln will, schreibt der besonnene Philosoph plötzlich aufrührerische Verse. Deren Pointe: »Willkommen mir des Freundes Grüßen! / Nicht Gruß nur, Fordrung von Entschlüssen / zu Worthestat.« Und bei der geforderten Wortesthat läßt es der gemächliche Denker, der schon in seiner Jugend als »alter Herr« belächelt wurde, nicht bewenden. »Und käm`s, wie`s längst mich drängt, doch loszuschlagen...« - Oha! O-Ton Hegel, Revoluzzer Hegel! Und dann hegt er für sein Umdenken die »Hoffnung, daß (…) es nicht verhall‘ in leeren Klagen / Daß sie‘ zum Volk, zum Werke tragen!«

Leider kam er nicht mehr zum Losschlagen. Wäre der Philosoph ein paar Jahre älter geworden, dann hätte er bei der Revolution von 1848 die Gelegenheit gehabt, das Kreuzbergerische in ihm praktisch werden zu lassen. Aber Hegel starb wenige Wochen nachdem er den Kreuzberg verlassen hatte. Und der junge Marx begann ein paar Kieze weiter, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Ungeachtet seiner Preußenverehrung stieg der Philosoph an jedem 14. Juli bedächtig in seinen Keller hinab, griff eine Flasche Rotwein und hob sein Glas auf den Sturm auf die Bastille, Signal zur französischen Revolution von 1789. Und so sollten auch wir Kreuzberger es nicht versäumen, bei einem Besuch von Hegels Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof eine Flasche Wein zu entkorken – roten, was sonst -, das Glas in Richtung Grab zu heben und dem Umstürzler symphatetisch zuzuzwinkern: »Was wirklich ist, ist vernünftig!« •

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