Kreuzberger Chronik
März 2020 - Ausgabe 217

Strassen, Häuser, Höfe

Blücherstraße 22


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von Werner von Westhafen

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Es ist ein Schmuckstück und steht unter dem Schutz der Denkmalbehörde: Das vierstöckige Jugendstilhaus in der Blücherstraße mit seinen ovalen Erkern und Balkonen, mit den barocken Schnörkeln seiner Fassade und den gewaltigen Fenstern, zwischen denen nur noch vier schmale Streifen für ein mit türkisfarbenen Mosaiksteinen verkleidetes Mauerwerk bleiben. Sie scheinen das Gebäude wie eine kunstvolle Banderole, wie eine Geschenkschleife zu umschlingen. Mit goldenen Lettern steht auf dem mediterranblauen Hintergrund noch der Name des einstigen Bauherren: Ein-und Verkaufs-Genossenschaft selbständiger Glasermeister Deutschlands.

Wie auch andere Handwerksbetriebe – Schuhmacher, Dachdecker oder Tischler – schlossen sich Anfang des Jahrhunderts auch die Glasermeister zu zahlreichen Einkaufsgenossenschaften in ganz Deutschland zusammen, um günstiger einkaufen zu können. Nun sollte in Berlin eine Zentrale der Glasermeistergenossenschaft gegründet werden. Dazu kauften die Genossen ein großes Grundstück, das von der Blücherstraße bis zur Fürbringer Straße reichte und in dem gleich fünf Gewerbehöfe mit einer Laufkatze und einem Kran zum Verladen der Glasscheiben entstanden. Das Anwesen der Glasermeister war groß genug, damit schon 1910, am Tag der feierlichen Einweihung, eine Etage der verklinkerten Hinterhofgebäude an die Druckerei Javitz verpachtet werden konnte. Exakt 100 Jahre lang blieben die Drucker in der Blücherstraße. Dann wurde das Gebäude an eine ausländische Firma verkauft. Drei Jahre später zogen die Drucker an den Stadtrand.


»Hier waren viele Drucker, lauter nette Leute. Man kannte sich, plauderte miteinander. Und als Brandt – der alte Hausmeister mit dem Stumpen im Mundwinkel – irgendwann nicht mehr konnte, da kümmerte sich die Chefin von der Druckerei gegenüber und brachte ihm zu Essen in die Wohnung und so. Heute ist das anders. Heute kennt man sich nicht mehr. Ist ja auch klar: Damals arbeiteten auf 300 Quadratmetern fünf Leute, heute sitzen auf der gleichen Fläche 100 vor den Computern.« Detlef Baltrock, Absolvent der UDK und kein unbekannter Künstler, zog 1979 in eine der vier kleinen Bediensteten-Wohnungen im 5. Hinterhof und kann sich noch gut an die alten Mieter auf dem Gewerbehof erinnern.

Produziert wird heute kaum noch etwas in der Blücherstraße, und die »Ware« verlässt den Hof auch nicht mehr mit dem Pferdefuhrwerk oder dem Lastwagen, sondern über das Internetkabel. Die einstöckigen Stallgebäude und die Remisen für die Kutschen aber sind alle noch da, der alte Brandt konnte noch das Stroh von den Wänden kratzen, als er über seinem Büro den alten Heuschober saubermachte. Aber von dem Kino, das einmal im Vorderhaus gewesen ist – lange, bevor die Sparkasse kam und ein riesiges Loch in die Gründerzeitfassade riss, um in der ehemaligen Zentrale der Glasermeister eine große Glasfront einzusetzen – ist keine Spur mehr zu sehen. Auch die bleiverglasten Fenster im Treppenhaus wären der Modernisierungswut und Profitgier des Investors zum Opfer gefallen, hätte der Denkmalschutz nicht Einspruch erhoben und die Glaskunstwerke gerettet.

Ungeschützt dagegen waren die Schrauben, die sich in unzähligen Kisten, Kartons und Schachteln über das komplette Erdgeschoß im 2. Hinterhof ausbreiteten. »Noch heute kommen Leute in meinen Laden und fragen, wo denn die Schraubenzentrale ist. Dabei sind die schon vor 35 Jahren hier ausgezogen!«, lächelt Reiner Türk, der Weinhändler im Vorderhaus. Vieles in der Blücherstraße hat sich zum Nachteil weiterentwickelt, der Weinladen allerdings ist ein Lichtblick in der jüngsten Geschichte des Hauses.

Auch nach der kleinen Pornofilm-Gesellschaft, die sich im fünften Hof nicht so erfolgreich verstecken konnte, wie sie vielleicht wollte, »weil immer wieder mal Damen in aufreizenden Kleidern durch die Hofeinfahrt spazierten«, wird ab und zu noch gefragt. Vollkommen vergessen dagegen ist das Modehaus »Modomoto«, in dem sich nie irgendjemand vor dem Spiegel drehte. »Das war ausschließlich Versandware, und da oben sah es aus wie in einem Callcenter: Lauter Frauen, die am Telefon Bestellungen entgegennahmen. Und unten im Hof stapelten sich die Kartons.«

So ändern sich die Zeiten. Auch »Klinger Neonröhren« ist nicht mehr da. 45 Jahre lang haben sie die bunten Röhren hergestellt, um mit leuchtenden Reklameschildern an Bars und Kneipen Licht in die Nacht zu zaubern. Heute leuchtet gar nichts mehr, kein Café, kein ordentliches und kein Schmuddelkino, nicht einmal mehr Fensterscheiben werden in den Höfen der Glasermeister hergestellt. »Die Mieten, die in den Achtzigern bei fünf Mark den Meter lagen, sind heute bei 20 Euro angelangt! Das ist für Handwerksbetriebe unbezahlbar!«, erzählt Detlef Baltrock.

Geplant war das alles ganz anders: Drei große Buchstaben in der Fassade erinnern noch heute an die GSG, die senatseigene Gewerbesiedlungsgesellschaft. 1965 gegründet, um Berliner Betrieben günstige Gewerberäume zur Verfügung zu stellen, erwarb sie als erste Immobilie das Haus in der Blücherstraße. Aber nach dem Fall der Mauer war es mit der städtischen Fürsorgepflicht vorbei, ausländische Investoren begannen sich für Berlin zu interessieren. 2007 verkauften Klaus Wowereit und Bausenator Müller mit der Unterstützung sämtlicher Parteien auch die GSG mit ihren 42 Gewerbestandorten und Arbeitsplätzen für 12.000 Mitarbeiter an die Orco Property Group. Auf Kritik entgegnete Müller gegenüber dem Tagesspiegel: »Die GSG ist kein öffentliches Unternehmen der Daseinsvorsorge.« •

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