Kreuzberger Chronik
November 2019 - Ausgabe 214

Kreuzberger
Ingo Waszerka




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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Cornelia Schmidt

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Es ist eine winzige und menschenleere, dicht von Bäumen flankierte Allee, die sich durch Felder und Hügel zu der Nummer 5 windet, die jemand mit blauer Ölfarbe auf einen Feldstein am Wegrand gemalt hat. An genau der Stelle, wo der schmale Asphaltstreifen endet und nur noch zwei Reifenspuren über die Wiese zum Haus führen, das sich unter bis aufs Dach kletternden Weinreben und Hopfen zu verstecken scheint.

Die Idylle ist nicht Kreuzberg. In Kreuzberg hat Waszerka nur eine kleine Wohnung in einem großen Haus mit zweistelliger Nummer. Die Nummer 5 gehört zum letzten Haus von Ruest, »es gibt nur noch fünf, die andern sechzig haben sie Mitte der Fünfziger abgerissen. Die Sozialisten in Schwerin hatten beschlossen, die Bewohner sollten alle nach Mestlin umziehen. Sie hatten sechs Stunden Zeit, ihre Sachen zu packen«, sagt Waszerka und ärgert sich noch immer. Ein Drama!

Die Nummer 1, der große Hof von Herrn Cords, den sie aus dem Dorf jagten, durfte stehenbleiben, samt der vier Nebengebäude und der Feldsteinkirche aus dem 14. Jahrhundert. Aber Waszerka machte nach dem Fall der Mauer Herrn Cords ausfindig, der inzwischen wieder rechtmäßiger Eigentümer der letzten fünf Häuser von Ruest geworden war. »Sechs Mark der Quadratmeter«, sagte Cords, als Waszerka nach dem Kaufpreis fragte. »Das ist zu wenig!«, sagte der Käufer. »Sechs Mark oder gar nicht«, sagte der Verkäufer. Also willigte Waszerka ein.


Das war 1993, da war er gerade Intendant am Schweriner Theater und pendelte zwischen der Stadt am See und dem Haus auf dem Land. Da hatte er 500 Mitarbeiter und redete sich den Mund fransig, von morgens früh bis abends spät, erst Stunden nach der Vorstellung kam er nachhause in die Wohnung mit Blick auf den See. Jetzt sitzt er vor dem kleinen Haus in Ruest mit dem großen Tisch, wo das Gras wächst, Blumen blühen und welken, die Tage mit einer Gelassenheit vorüberziehen, die all die Aufregung der Theaterjahre merkwürdig fern erscheinen lässt, und redet nur noch mit Cordula Gerburg, jener Schauspielerin, die sich schon in den Siebzigerjahren am Theater in Darmstadt in den langhaarigen Dramaturgen verliebte. Wenn sie nicht da ist, dann redet er mit dem Hund, den Hühnern und dem Frosch. Er bellt, quakt und gackert, und die Tiere antworten. Sie haben sich in den vergangenen 32 Jahren an seinen menschlichen Akzent gewöhnt.

Die Siebziger sind lange vorüber, aber Waszerka trägt noch immer seine langen, vom vielen Nachdenken zerzausten, jetzt silbergrauen Haare, die dem jungen Theaterintendanten ebenso gut zu Gesichte standen wie nun dem alten Mann, der im Winter drinnen im »großen Saal« von Ruest mit den vier Fenstern sitzt, vor dem kleinen Schreibtisch unter dem Shakespeare-Porträt, auf dem Manuskripte, Briefe, Rechnungen und zwei aufgeschlagene Bücher zu einem Stillleben zusammenfinden. Shakespeare ist eine alte Jugendliebe, »ich bin mit ihm groß geworden!«, sagt Waszerka. Zu verdanken hat er die Dauerbeziehung seinem Klassenlehrer in Hannover, der für die gesamte Klasse ein Theaterabonnement arrangiert hatte. Im Hannoveraner Opernhaus war es auch, wo er Macbeth begegnete, in einer Inszenierung von Peter Zadek, die »bleibenden Eindruck« in ihm hinterließ. So ist Shakespeare eine Art Lebensbegleiter für ihn geworden, immer wieder hat Waszerka ihn inszeniert und übersetzt. Sogar einen Sohn hat das Paar nach ihm benannt: William.

Wenn Cordula und ihr Hund nicht da sind, die Hühner irgendwo beim Nachbarn herumscharren, die Frösche untergetaucht sind, sitzt er in seinem Ohrensessel vor dem Fenster, das den Blick über das blonde Stoppelfeld freigibt, hinter dem irgendwo die Ostsee liegen muss, man hört es an den Möwen, spürt es am Wind. Da mischt sich eine feuchte, salzige Prise in die nach Korn duftende Luft, die über den trockenen Feldern flimmert. Später, wenn die Sonne untergeht, wirft die Leselampe ihren Lichtkegel auf den Ohrensessel und das Bücherregal. Dort sitzt er dann und liest, oder er hat das Buch schon zugeschlagen und die Augen geschlossen. Bilder, Erinnerungen ziehen vorüber, an Bochum, Darmstadt, Düsseldorf, und natürlich Schwerin.

v. l. n. r: ‚Ingo Waszerka, Cordula Gerburg und der faule Herr Lehmann










Die Schauspieler, die Techniker, Schneider und Schuster, die Musiker, »das war wie eine große Familie. Ich habe sie alle beim Namen gekannt, 500 Leute. Ich habe mich hingesetzt und ihre Namen auswendig gelernt. Anders geht so etwas nicht, besonders, wenn man der erste Intendant aus Westdeutschland ist, nach 40 Jahren DDR. »Und das war einer der schönsten Momente in meinem Leben, als ich sie nach der zweiten Spielzeit alle zu mir rufen konnte, jeden einzeln, und die zitterten alle schon, das hatte in der Regel nichts Gutes zu bedeuten, wenn man zum Intendanten gerufen wurde. Und dann konnte ich ihnen sagen, lieber Herr Soundso, wir haben im vergangenen Jahr so viel eingespielt, dass ich Ihren Lohn erhöhen darf! «

Waszerka kam als kritisch beäugter Fremdling aus dem kapitalistischen Westen. Er brachte kein eigenes Ensemble mit, nur seine geliebte Cordula Gerburg. »Ich behielt die komplette Truppe, denn das waren wunderbare Schauspieler. Die hatten eine gute Schule hinter sich und beherrschten ihr Handwerk.«

In den ersten Jahren stand ihm ein Etat von mehreren Millionen zur Verfügung, der Erfolg in der Landeshauptstadt war phantastisch, das Theater meistens ausverkauft. Doch nach der Euphorie der ersten gemeinsamen Jahre der frisch vermählten Staaten kamen die Sparmaßnahmen. Der Schauspielintendant des Staatstheaters von Schwerin saß plötzlich einer neuen Generation von Politikern gegenüber, einer Art visionsloser, kalkulierender Pragmatiker, und musste verhandeln. Aber sie schüttelten die Köpfe. Um seinem Ensemble den Lohn nicht gleich wieder kürzen zu müssen, beschloss der Intendant: »Wir werden in der Sommerpause draußen vor dem Theater und im Schlosshof spielen!«

Die Kulisse war grandios. Der große Platz mit dem alten Kopfsteinpflaster vor dem barocken Gebäude des Theaters auf der einen Seite und der stattlichen Brücke auf der anderen, die zu Schwerins berühmtem »Märchenschloss« auf einer Insel im See führte, versetzte die Zuschauer ins Zeitalter der Spielmänner. Im ersten Jahr spielten sie den Faust von Marlowe, und in den folgenden drei Sommern entwickelte Waszerka das Schweriner Sommerfest zu einem internationalen Theaterfestival. Die Leute kamen aus Dänemark und Schweden, die Zeiten, als »Frauen mit vier Paar Nylons übereinander die Staatsgrenze passierten«, um ihren Freundinnen im Osten eine Freude zu machen, waren vorbei. Schwerin war eine internationale Adresse geworden.

Doch die Kürzungen des Theater-Etats nahmen kein Ende. 1999 zog Waszerka die Konsequenz und kündigte. Er tourte weiter über die Bühnen des Landes, inszenierte in Luxemburg, Dresden und Weimar, und er etablierte das Theaterfestival von Recklinghausen. Waszerka hat fast sein ganzes Leben auf der Bühne verbracht, und wenn ihn heute manchmal jemand fragt, ob ihm nun, wo er sich in Ruest an seinen kleinen Schreibtisch zurückgezogen hat, das Theater nicht manchmal schmerzhaft fehle, dann sagt er: »Nein. Ich habe über siebzig Inszenierungen gemacht. Das reicht. Und ich meine das durchaus im guten Sinne.«

So ganz zurückgezogen aus der Welt des Theaters und seiner Dramen hat er sich ohnehin nicht. Wenn er für ein paar Tage in Kreuzberg ist und William, der nun auch im Theater arbeitet, seinen Eltern ein Stück empfiehlt, dann sehen sie es sich auch an. »Wir sind ja jetzt in der komfortablen Situation, jederzeit aufstehen und gehen zu können, wenn es zu schlecht ist.« Aber letztens, im Berliner Ensemble, blieben sie wieder einmal bis zum Schluss!

Auch an seinem Schreibtisch in Ruest beschäftigen ihn noch immer die alten Dramen. Da ist eines, das ihm nicht aus dem Kopf gehen will, an dem er schon lange schreibt. »Es wird wohl eine Art Roman werden. Ein Stück Familiengeschichte, im weitesten Sinne. Ich komme nämlich aus Breslau! Eines Tages mussten wir weg! So wie die Leute aus Ruest!«, erzählt Waszerka.

Im Sommer ist er dort gewesen, in Breslau, zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren. Auf Spurensuche. Die alte Heimat hat er nicht wiedergefunden. Die gibt es nur noch in Worten und Gedanken. •




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