Kreuzberger Chronik
November 2017 - Ausgabe 194

Kreuzberger
Jörg Messerschmidt

Die Gitarre muss mit


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Gross

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Jörg hatte an einer Autobahnraststätte gestanden und auf einen Lift gewartet. Aber nach der schwedischen Straßenverkehrsordnung gehörten die Parkplätze zur Autobahn, wo das Trampen verboten war. Also landete Jörg Messerschmidt im Knast. Die Polizei hatte nicht viel übrig für diese jungen, durch die Welt vagabundierenden Leute: »Die letzten von euch haben sechs Wochen gesessen, bis es einen freien Platz im Flugzeug gab!«
Jörg begann zu randalieren, drohte damit, diesen blöden schwedischen König umzubringen! »Bis dieser Schrank in der Tür auftauchte, ein Riesenkerl, dem der Türrahmen nur bis zu den Schultern reichte, sein Kopf war schon nicht mehr zu sehen. Der streckte den Arm aus, nahm mich an der Gurgel, hängte mich in die Ecke und sagte: Who wants to kill the king!«
Als Jörg von diesem Ausflug in die Arndtstraße heimkehrte, war die Wohnung verlassen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel mit der neuen Adresse seiner Eltern. Die Tage, als sie zu dritt in der Eineinhalb-Zimmer-Wohnung lebten, als er in der Küche schlief, wenn die Mutter am Abend noch an die Nähmaschine in das große Zimmer mit dem Tisch und den Betten musste - das sie »Gute Stube« nannten, so als hätten sie mehrere Stuben zur Auswahl gehabt - gehörten endgültig der Vergangenheit an. Er war auf sich allein gestellt. Jetzt gehörte ihm die Wohnung in der Nummer 17.
Aber das sprach sich schnell herum im Viertel: »Der Jörg hat ne eigene Hütte! Wir waren sofort ne WG mit 7 Leuten.« Denn es war die Zeit der WGs. Es waren die 60er und die 70er. Die Jahre der Rebellion. Jörg war dabei. Er stand vor der Wache in der Friesenstraße und demonstrierte, als die Mitglieder der K1 verhört wurden. Er war dabei, als in der Dieffenbachstraße ein Haus besetzt wurde und als vor Springer die Autos brannten. Er kämpfte in der legendären Schlacht am Tegeler Weg. Er hat die Gummiknüppel auf dem Rücken gespürt, »drei Tage lang.« Trotzdem war es damals noch angenehmer als heute. Die Wasserwerfer »waren noch echte Wasserwerfer, da war noch keine Chemie drin. Wir haben uns mit Pappendeckeln in den Strahl geworfen und sind über die Straße gesurft.« Und es gab keine Woche, in der nicht irgendeine Demo war. »Schließlich wollten wir die Welt verändern!«, sagt Jörg Messerschmidt und blickt den kleinen Rauchwölkchen nach, die sich spurlos im Himmel verflüchtigen. Und fügt hinzu: »Das will ich heute noch.«
Obwohl er nicht mehr auf jede Demo geht. Aber wenn es darauf ankommt, wenn es auch nur die geringste Chance gibt, etwas zu verändern, dann ist er dabei. Dann klebt er Plakate, entwirft Flugblätter, argumentiert in langen Nächten mit denselben Argumenten wie damals. Die Mechanismen sind die gleichen geblieben, die Welt verändert sich nicht. Nicht für einen wie ihn. Der sein halbes Leben in der Wohnung der Eltern lebte. Der noch immer in die Stammkneipe seines Vaters geht und noch immer am Stammtisch im Heidelberger Krug sitzt, der schon vor 60 Jahren dort stand, als die Kneipe noch den Remmers gehörte, und als an Wahltagen der halbe Kiez hier auftauchte, um seinen Stimmzettel in den Kasten zu werfen. Vieles ist geblieben. Nur der erste Wessi ist nicht mehr da. »Jeder wusste, wer gemeint war, wenn man der Wessi sagte. Es gab ja nur den einen damals, in den Sechzigern. Heute sagen sie: der Berliner!«
Dass Jörg Messerschmidt einen so großen Teil seines Lebens in diesem Viertel verbringen würde, war nicht geplant. Seit er den Störtebeker gelesen hatte, wollte er zur See. Also begann er in Bremervörde mit der Ausbildung auf dem Trockendeck, einem Rasenplatz, in dessen Mitte ein zehn Meter hoher Schiffsmast in die Erde gerammt war. »Da mussten wir an Tauen raufklettern, uns oben freihändig hinstellen und dem Kapitän, der zehn Meter unter uns stand, gerade in die Augen blicken!« Das haben nicht alle geschafft.
Jörg schon. Jörg wurde sogar eine Offiziersausbildung und ein Platz bei Hapag Lloyd angeboten. Er hatte schon das Ticket nach Rotterdam in der Tasche und wollte nur noch einmal kurz nach Kreuzberg.... - Aber da traf er die Freunde aus dem Gemeindekeller der Passionskirche wieder. Und blieb. Für immer.
Die Freunde sagten, er habe ein Gespür für Jugendliche. Und gute Erzieher seien wichtig, wenn man die Welt verändern wollte. Also wurde er Erzieher. Las O Neill, sah Bambule, traf sich jede Woche nach der Arbeit im Statthaus Böcklerpark mit anderen Erziehern und Sozialarbeitern aus ganz Berlin zu nächtelangen Diskussionen. Marx, Engels, Bloch, Adler... »immer wieder lief jemand ins Nebenzimmer, um mit einem Buch zurückzukommen. Das war auch alles ganz nett - etwa bis zum 5. Bier!« In den Ferienlagern las er den Kindern mit dunkler Stimme aus dem Störtebeker vor, bis sie sich vor Angst unter die Decken verkrochen, und wenn es irgendwo im Jugendkeller einen Musikraum gab, dann drückte er ihnen eine Gitarre in die Hand. Die Gitarre war immer dabei.
Auch wenn sie in den Urlaub trampten. Und 1970 auf Fehmarn. »Die Wiese war voller so kleiner Junikäferchen, alles krabbelte, ich habe mein Leben lang nicht so viele Käfer gesehen. Und dann schiffte es die ganze Zeit, die Zelte flogen davon, es war ziemlich ungemütlich. Aber als Hendrix die Bühne betrat, kam die Sonne raus, ich schwör´s, und jeder, der was anderes sagt, lügt!«
Ob die Sonne nach dem Auftritt wieder verschwand, weiß er nicht mehr. »Ick merk mir nur die wicht´gen Sachen!« Aber zwei Wochen später, das hat er sich gemerkt, saßen sie ganz bequem in einem großen Citroen auf dem Weg nach Stockholm, und der Fahrer sagte: »Hendrix ist tot! Das hat mich echt berührt. Wir hatten sein Abschiedskonzert gehört. Wir hatten das noch in den Ohren!«
Ein Leben ohne Gitarre war undenkbar, und deshalb war Kreuzberg voller Gitarren, in »jeder WG stand eine Gitarre« und in jedem Jugendclub ein Verstärker. Messerschmidt hatte mit einem geschenkten Bass begonnen, den er ins Radio seiner Eltern stöpselte. »Ich hab zwei Radios geschreddert damit!« Seinen ersten Auftritt hatte er in den Sommerferien in St. Peter-Ording, »Berliner Kinder an die Sonne« lautete das Motto. Das Publikum bestand aus lauter Mädchen, die bei »As Tears Go By...« feuchte Augen bekamen. Ein Schlüsselerlebnis, von da an durfte die Gitarre nirgends fehlen.
Auch viele Jahre später nicht, im Dada, gegenüber vom Heidelberger Krug, wo Jörg nach der Arbeit den Feierabend verbrachte. Irgendwann wurde er gefragt, ob er nicht einen Abend hinterm Tresen aushelfen könnte. »Aus einem Abend wurden zwei, aus zwei drei.« Jörg stand immer öfter hinter dem Tresen, und weil der Pächter am Kudamm nicht gut auf die Betreiber des Dada zu sprechen war, die mit der Miete immer in Verzug waren, schickten sie Jörg auch gern zum Bezahlen vor. »Das war so ein italienisches Restaurant, wenn man eintrat, waren rechts und links zwei riesige Schatten, das waren die Bodyguards. Der Chef saß ganz hinten im Halbdunkel an einem Tisch und schwieg. Da war man froh, wenn man wieder draußen war.«
Es war eine Zeit mit »viel Arbeit, viel Geld und wenig Schlaf.« Nachts um 3 kamen die Musiker aus den anderen Kneipen noch kurz zur Feierabendsession vorbei, darunter auch Maxi, ein Schwarzer, der mit Mademoiselle Ninette einen Riesenhit gelandet hatte und seiner Plattenfirma zu Millionengewinnen verhalf. Jetzt lief er mit dem Hut durch die Kneipe, zeigte jedem den Plattenvertrag über die 4000 Dollar und spielte mit Jörg bis um fünf Gitarre. Aber die Stimmung war gut im Dada. Sogar die Frau von Süleyman Coban, die sonst immer so still unter ihrem Kopftuch war, fing plötzlich an, Geschichten zu erzählen und zu lachen, »wir waren alle total baff.«
Seit St. Peter-Ording hat Messerschmidt die Gitarre nicht mehr aus der Hand gelegt. Er spielte sie auf der Straße und auf der Bühne, in Kneipen und Jugendclubs, in verschiedensten Formationen. Die Waldbühne ist den Männern mit den revolutionären Texten bislang verwehrt geblieben, vielleicht der sperrigen Namen wegen, die sich die Liedermacher gaben. Walentin und die gute Stube hieß eine Formation, vielleicht in Erinnerung an das Radio, in das er einst die Bassgitarre stöpselte. Vielleicht auch in Erinnerung an die Mutter, die »den ganzen Tag gesungen hat!« Auch Jörg hat »immer ne Melodie im Kopp. Ich mach eigentlich immer Musik, wenn ick auf´m Rad sitz, wenn ick spazierengeh...« Die aktuelle Band heißt MUEHD, was an Müdigkeit denken lässt. Doch der Name belegt eher Messerschmidts Unermüdlichkeit: Und die ersten drei Buchstaben stehen natürlich für Marx und Engels. Schließlich will man ja noch die Welt verändern.

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