Kreuzberger Chronik
Februar 2017 - Ausgabe 186

Geschichten & Geschichte

Otto Reutter im Apoloo


linie

von Werner von Westhafen

1pixgif
Ganz Berlin kannte den Sänger von der Friedrichstraße

Sein Vater muss entsetzt gewesen sein, als er erfuhr, dass der Sohn gleich am ersten Tag seine Stelle in dem Kolonialwarenladen in Lychen wieder gekündigt hatte und nach Berlin gereist war. Aber es war ein Glück, dass Otto kündigte und nach Berlin fuhr. Zwar verbrachte der arbeitslose junge Mann die erste Heilige Nacht noch im Obdachlosenheim, aber er war am richtigen Ort, in der südlichen Friedrichstadt – da, wo zu jener Zeit Dichter und Theaterleute lebten und arbeiteten.

Der siebzehnjährige Sohn des Kaufmanns hatte keine Lust, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und einer dieser langweiligen »Heringsbändiger« zu werden. Schon als Kind hatte er, sobald der Vater mit Pferd und Wagen unterwegs war, um Ware auf der Straße feilzubieten, den Kleiderschrank seiner Mutter durchwühlt, war in Unterröcke und Blusen der Mutter geschlüpft, hatte den Bruder ins Jackett des Vaters gesteckt und im Hof »Szenen einer Ehe« gespielt. Die kleinen Dialoge waren derart komisch, dass die Kinder aus der Nachbarschaft zwei Pfennige Eintritt bezahlten, wenn das Brüderpaar auftrat. Am Ende seiner Laufbahn waren es Millionen von Zuschauern gewesen, die ihn auf der Bühne erlebt hatten.

Seinen ersten wirklichen Auftritt hatte Otto August Pfützenreuter, wie er damals noch hieß, 1888 im Americain-Theater in der Dresdner Straße, wo er die Rolle des Mondes übernahm, jeden Abend auf eine Leiter steigen und durch ein Loch in der Kulissenwand freundlich lächelnd das Geschehen begleiten sollte. Als ihm ein Bühnenarbeiter eines Tages just in dem Moment, als das Publikum von der lang erwarteten Liebeserklärung kurz vor dem Ende des Stückes ganz still geworden ist, die Leiter unter den Füßen wegzieht, rumpelt es. Das Publikum beginnt zu kichern, aber der Schauspieler auf der Bühne reagiert prompt: »Komm, Anneken, wir gehen, der Mond is ja ooch schon nich mehr da!« – Woraufhin Reutter aus dem Off kontert: »Ich komme gleich wieder, ich will nur Fritz eins in die Fresse haun!«

Sie haben ihren Spaß am Theater, der junge Mann mit den Kulleraugen springt überall
ein, wo man ihn braucht: Er ist Kurier, Tischler, Laufbursche, Statist und Komparse, ein
Jahr später darf er schon die Rolle des Bauernjungen spielen, der mit Kartoffeln und Bratpfannen nach Gespenstern werfen soll. Doch dann erscheint der Vater, um den noch Minderjährigen aus dem Sündenpfuhl zu retten, und Otto landet bei einem Buchhändler in Karlsruhe, wo er sich jedoch nicht den Zahlen, sondern den Buchstaben widmet: Er beginnt zu schreiben, verfasst vier Dramen und steht 1893 als Karlsruher Volkssänger wieder auf der Bühne. Anschließend geht er ans Berner Metropol-Theater, spielt in Dresden, Hamburg und Wien. Die ersten Noten und Texte erscheinen, die der Gattung der »Couplets« zugeordnet werden, und am 1. September 1896 ist er endlich zurück in Berlin, um in einem traditionsreichen Haus an der Friedrichstraße 218 aufzutreten.

Schon 1870, dem Geburtsjahr Reutters, befand sich auf dem Grundstück mit der Nummer 218 ein Sommergarten, in dem regelmäßig Konzerte stattfanden, die so erfolgreich waren, dass man an gleicher Stelle einen Konzertsaal errichtete. Die neue Spielstätte nannte sich Olympia, später Berliner Flora, war mit der Berliner Pferdebahn gut zu erreichen und bot »täglich humoristische Soirée (...), Ausschank von Moabiter hell und dunkel Lagerbier. Vorzügliche Küche bei civilen Preisen, einen prachtvollen Sommergarten« und einen »1500 Personen fassenden Saal« für »Festlichkeiten bei soliden Bedingungen.« Das Geschäft mit der Berliner Flora florierte derart, dass zwei Gastronomen, die bereits den Wintergarten am Central-Bahnhof Friedrichstraße besaßen, nun auch den alten Sommergarten kauften, der inzwischen Concordia-Palast hieß, und auf den Namen Apollo-Theater tauften.

Aber Apollo brachte den Unternehmern kein Glück. Erst als Jacques Glück den Saal übernahm und den 26-jährigen Kapellmeister Paul Lincke engagierte, füllten sich die Ränge. Lincke wurde mit musikalischen Untermalungen des Varietéprogramms zum Publikumsliebling. 1896 engagierte Glück dann für 600 Mark monatlich auch den komischen Sänger mit den Kulleraugen, der sich schnell zum Knüller im Apollo entwickelte. Nur Ernst Perzina und seine Schimpansin hatten mehr Lacher auf ihrer Seite, was Reutter später zu der Bemerkung veranlasste: »Ich hatte früher einmal den Größenwahn, bis ich an ein Varieté kam, in dem ein dressierter Affe besser gefiel als ich.«

Drei Jahre lang sahen die Direktoren des Wintergartens zu, wie Reutter ihnen ein paar Häuser weiter die Show stahl. 1899 machten sie dem Drama ein Ende, kauften sich den Star und machten ihn zu ihrem Aushängeschild. Doch während Reutter am Central-Bahnhof Erfolge feiert, führt Paul Lincke im Apollo-Theater noch im selben Jahr Frau Luna auf. Man war begeistert. »Es flimmerte in den Logen nur so von Dekolletés, Brillanten, weißen Hemdbrüsten, Uniformen«, berichtete der Komponist, der eigens aus Paris angereist war, um in der letzten Silvesternacht des 19. Jahrhunderts persönlich zu dirigieren. 400 Mal wurde das Erfolgsstück im Apollo aufgeführt, erst in den Zwanzigerjahren geriet das Operettenhaus allmählich in Vergessenheit.

Der kleine Mann mit den Glubschaugen und den frechen Liedern aber blieb dem Wintergarten an der Friedrichstraße dreißig Jahre lang treu, und jeden Abend, wenn er auftrat, waren die Plätze im 75 Meter langen Saal ausverkauft. Ein weniger erfolgreicher Kollege fragte ihn einmal nach der Vorstellung, weshalb er »nicht in die Höhe komme. Dabei sehe ich Ihnen doch so ähnlich!« Reutter antwortete: »Ja, ich bin auf die Höhe gekommen, weil ich niemandem ähnlich sehe.« •


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg