Kreuzberger Chronik
September 2016 - Ausgabe 182

Geschichten & Geschichte

Die Handschlaglegende


linie

von Werner von Westhafen

1pixgif
Es gibt Gerüchte, die zu schön sind, um sie Lügen zu strafen.


Die denkwürdige Szene soll sich in Kreuzberg, gleich gegenüber dem Anhalter Bahnhof im Wintergarten des Grand Hotel Excelsior ereignet haben. Sie führt zwei Männer zusammen, die im Grunde wenig miteinander gemein haben. Der eine ist ein Ausreißer und Vagabund, ein ewiger Querkopf und Possenreißer. Der andere wurde reich geboren und im Laufe seines Lebens immer reicher. Bis er der reichste Mann Deutschlands war.

Glaubwürdige Augenzeugenberichte von dem legendären Treffen gibt es nicht, obwohl der Autor eines Artikels, der am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1969 - fast ein halbes Jahhundert nach dem Ereignis - im Neuen Deutschland erschien, offensichtlich am Nebentisch gesessen und das Gespräch zwischen dem Großkapitalisten und dem Querkopf belauscht haben muss. Er hat alles mit Argusaugen beobachtet und jedes Wort akribisch festgehalten:

»Diskret beugt sich der Kellner zu dem älteren der beiden Herren hinunter, die im Wintergarten frühstücken. Herr Direktor! Herr Stinnes möchte sie gern kennenlernen....«

Während des folgenden Dialogs dürften die beiden Männer ihre Stimmen gesenkt und die Köpfe zusammengesteckt haben, denn sie waren keine Unbekannten: der Finanzkönig von Deutschland und der berühmteste Zirkuskönig im Lande. Der Autor im Neuen Deutschland muss sich in den noch unverwanzten grauen DDR-Vorzeiten ein gutes Stück zum Nebentisch gebeugt haben, um dem Gespräch folgen zu können: »Sie wollen also ein paar Jahre kreuz und quer durch Südamerika? Und Sie glauben, dass allein Willenskraft Wege schafft? Aber mit dem Willen allein werden Sie es wohl nicht schaffen!«

Hugo Stinnes, »der Finanzkönig, von der Woge der Kriegs- und Nachkriegskonjunktur emporgetragen« , Inhaber von 1664 selbständigen Betrieben, Arbeitgeber für 600.000 Beschäftigte und der Kopf eines auch im Inflationsjahr 1923 noch prosperierenden Wirtschaftsimperiums, scheint sich zunächst über den Zirkuskönig lustig zu machen. Doch irgendwann - der Autor am Nebentisch hat seinen Posten natürlich nicht verlassen - »packt Hans Stosch-Sarrasani den Stier bei den Hörnern und sagt: Hören Sie! Sie sind ja unter anderem ein deutscher Reeder. Es wäre ja gelacht, wenn Sie und ich es nicht schaffen würden, denen da draußen zu zeigen.... – Hei lewet noch!«

Es müssen jedoch noch andere Journalisten an den Nebentischen im Wintergarten gesessen haben, denn in einer der vielen Legenden, die um das Kreuzberger Treffen der Herren Sarrasani und Stinnes kreisen, umgarnt der begeisterte Zirkusmann den nüchternen Kapitalisten mit Visionen eines gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolges: »Tja, wenn man mit dem Zirkus nach Südamerika fahren könnte, da läge das Geld auf der Straße«. Woraufhin Stinnes zuerst zögerlich und nachdenklich, dann aber äußerst interessiert ausgesehen haben soll.

»Südamerika? Sie wollen einen ganzen Zirkus nach Südamerika schaffen? Mit Elefanten, Tigern, Löwen, Pferden? Ein deutscher Zirkus in Südamerika? Mein Herr, Sie haben Mut!« – »Mut ja, aber Geld keines!« Woraufhin Stinnes Sarrasani die Hand auf die Schulter gelegt und ihn beruhigt haben soll: »Das Geld habe ich. Ich werde Ihren Zirkus nach Südamerika expedieren. Und wenn ich eigens ein paar Schiffe für diesen Zweck umbauen müsste.« Und dann, so die Legende, sollen sich die Männer »über das Marmortischchen im Kaffeehaus hinweg« die Hand gegeben und das Geschäft besiegelt haben.

Wie immer die Begegnung im Excelsior sich auch zugetragen haben mag: Sie leitete eine ebenso spektakuläre wie erfolgreiche und mit Spannung von den Zeitungen über Jahre verfolgte Flucht aus einem Land ein, das am Ende war. Der Preis für einen Laib Brot ging in die Millionen, Arbeit gab es keine mehr, Tausende versuchten, das Land zu verlassen. Monate lang war Sarrasani mit Tieren und Artisten über die Dörfer gezogen, hatte Eintrittskarten gegen vier Pfund Hafer getauscht. Aber es half alles nichts: Im Herbst 1923 entschloss er sich, mit dem gesamten Zirkus nach Südamerika zu fliehen.

Es war eine Sensation, als der Zirkus mit zwei Schiffen der Reederei Stinnes im November 1923 trotz Sturm in See stach, begleitet von Journalisten aus aller Welt. Mit an Bord 400 Tiere: Allein 215 Pferde, dazu Kamele, Dromedare, Zebras, Büffel, Löwen und Papageien. Und 21 Elefanten. Zwei Wochen sind sie auf See, bis am 30. November 1923 zum ersten Mal ein Zirkus im Hafen von Montevideo vor Anker geht. Die Arche des Zirkuskönigs ist auf allen südamerikanischen Titelseiten, bis nach Deutschland reisen die Bilder.

Die Rechnung des Finanzkönigs ist aufgegangen. Hugo Stinnes, schreibt später ein Chronist, »traf eine Entscheidung, die ihm als Vater von sieben zirkusbegeisterten Kindern durchaus zur Ehre gereichte, die aber auch unter geschäftlichen Gesichtspunkten Früchte zu tragen versprach. Zumal seine Schiffe zu dieser Zeit keineswegs mit voller Ladung fuhren.« Der Reeder hatte gewusst, dass dieser Zirkuskönig den Namen Stinnes in die Neue Welt tragen würde.

Als Stinnes Senior noch während der Reise des Zirkus Sarrasani verstarb, wollte der Sohn des Finanzkönigs von den Abmachungen seines Vaters nichts mehr wissen und weigerte sich, den Zirkus in Südamerika abzuholen. Die Sache landete vor Gericht, und erst, als ein schriftlicher Vertrag auftauchte, der die Geschichte vom Handschlag am Kreuzberger Kaffeehaustisch endlich ins Reich der Legenden beförderte, erklärte sich Stinnes Junior bereit, Sarrasani die Passage nach Europa zu ermöglichen. Die Legende vom Handschlag der beiden Könige aber hat bis heute überlebt.•

(Literaturnachweis: Jupp Müller-Marein, 1941/42, »Das Leben im Zirkuszelt« , Ernst Günther, »Sarrasani, wie er wirklich war« , Henschelverlag, 1984)


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg