Kreuzberger Chronik
Oktober 2016 - Ausgabe 183

Dieter Peters Kreuzberger
Margit Jankowski

Es war der schönste Tag meines Lebens


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von Horst Unsold

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Sie wusste, was sie wollte. Sie wollte nach Berlin. Margit Jankowski weiß eigentlich immer ganz genau, was sie will. Wenn sie zu ihrem „kleinen Italiener“ kommt und man ihr die Speisekarte reichen möchte, sagt sie: „Ich weiß schon, was ich nehme: Die Fischsuppe.“ Aber bei der Wahl ihrer künftigen Heimatstadt wusste sie es nicht nur, es war Liebe auf den ersten Blick. „Es gab überhaupt keinen Dresscode in dieser Stadt. Diese Leute, die im Morgenmantel und in Pantoffeln auf die Straße gingen, diese Läden und Kneipen, die Tag und Nacht offen hatten, das alles war komplett anders als Stuttgart. Als meine Mutter einmal zu Besuch kam, sagte sie: Hier siehts ja aus wie nach dem Krieg!“

Doch die Tochter blieb hartnäckig. Niemand konnte ihr diese Stadt ausreden. Die Mutter nicht, der Vater nicht, nicht einmal der Busfahrer, Herr Schatz - sie hat den Namen nie mehr vergessen - der schon auf dem Weg nach Berlin „ständige Gesellschaft“ suchte, so lange und so aufdringlich, dass sie vor ihm aus dem Bus fliehen musste. Auch der Tunesier auf dem Institut Français nicht, der heftigst um die junge Frau warb, bis er - aus Enttäuschung über ihre Absage - sie zu beschimpfen begann: „Du benimmst dich wie eine Jüdin!“ - „Ich bin auch eine!“, sagte sie. Woraufhin er auf sie einzuprügeln begann. Erst als eine Passantin eingriff, ließ er von ihr ab.

Mo jedenfalls war jeden Abend, wenn sie nachhause kam, aufs Neue verwundert, was diese Frau in dieser Stadt alles so erlebte. Mo wohnte im Wedding, in der Soldiner Straße. Sie wurde Margits erste Adresse in der neuen Stadt, eine Woche lang. So lange, bis sie die Aufnahmeprüfung am Berlin-Kolleg in Schöneberg bestanden hatte. Sie hatte sich entschlossen, doch noch das Abitur zu machen. „Nicht, weil ich Lehrer werden wollte, sondern weil ich dachte, das gehört irgendwie dazu, wenn man 18 oder 20 ist: Studieren.“ Außerdem war ihr die Buchhändlerlehre in Stuttgart zu langweilig und viel zu zeitraubend gewesen. Sie hatte gern und viel gelesen, aber während der Lehre verging ihr die Leselust. Sie wollte keine Buchhändlerin mehr werden. „Ich habe nichts gegen so einen Beruf, aber für mich war das nichts, jeden Tag so früh aufstehen, jeden Tag ein Chef vor der Nase. Jetzt bin ich mein eigener Chef, ich kann mir die Leute aussuchen, mit denen ich meine Zeit verbringe. Und ich verbringe viel Zeit mit ihnen.“

Trotzdem hat sie die Liebe zur Literatur und zur Kunst nie ganz verloren. Nach dem Abitur am Studienkolleg in Schöneberg entschied sie sich für Philologie und Romanistik. „Die Romanistik war interessant, aber die Philologie war schon eine große Belastung.“ Sie hatte schon das Große Latinum in der Schultasche, nun sollte auch noch das Graecum dazukommen. Gleichzeitig arbeitete sie schon in dem Laden in der Bergmannstraße, jeden Tag, jede freie Minute. Irgendwann hatte sie einfach keine Zeit mehr für dieses Studium. Sie wusste genau, was sie wollte, als sie eines Morgens kurzentschlossen ins Sekretariat der Freien Universität ging und sich exmatrikulierte. „Es war der schönste Tag meines Lebens.“


Und es war der Anfang von Ararat, dem inzwischen wohl ältesten Ladengeschäft in der Bergmannstraße. Obwohl die Geschichte eigentlich schon früher begann, in Stuttgart, wo Frank und Ahmet eines Tages beschlossen, nach Berlin zu gehen. Dr. Ahmet Dogan hatte einen Verlag gegründet und übersetzte und veröffentlichte zeitgenössische Werke türkischer Literatur, damit die Deutschen endlich erfuhren, wer da eigentlich bei ihnen zu Gast war. Natürlich standen auch an den Fließbändern des Mercedes-Stammwerkes in Stuttgart genügend türkische Arbeiter, doch nirgends lebten so viele Türken wie in Berlin. Nirgends war die Unterstützung des Verlags bei der Integration der viel zitierten Gastarbeiter dringender nötig als hier.

1983 zogen die beiden Männer in die geteilte Stadt und eröffneten in der Bergmannstraße an der Ecke zur Nostitzstraße das Büro eines kleinen Verlags mit dem Namen Ararat und dem Logo jenes berühmten anatolischen Berges, an dem einst die Arche Noahs gestrandet sein soll. Schon wenige Wochen später war auch Margit Jankowski zur Stelle.

Während die beiden Männer in den hinteren Räumen die Verlagsarbeit erledigten und türkische Autoren - unter anderen den noch unbekannten Schriftsteller Kemal, der später den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt - veröffentlichten, begann Margit mit dem Aufräumen. „Der Laden war vorher ein Waschgeschäft gewesen, ein uncharmantes Lager, und die Fenster waren vom Krieg noch mit Sperrholz verbarrikadiert. Nicht einmal eine Toilette gab es.“


Sie riss die Fenster auf und die Tapeten von den Wänden, nahm den Malerpinsel in die Hand, baute Regale und Schränke. Und begann, neben Büchern Postkarten zu verkaufen. Stellte 1984 den ersten Postkartenständer in der Straße auf. „Heute hat jeder Klamottenladen einen Kartenständer vor der Tür“. Ständer, die so langweilig sind, als stünden sie in der Fußgängerzone in Stuttgart. Margit Jankowski aber verkaufte nicht nur irgendwelche Postkarten, sondern politisch korrekte Postkarten. Postkarten mit Fotografien jener Autoren, die der Verlag damals drucken ließ. Postkarten mit Werken türkischer Künstler. Politische Karikaturen, wie die von Kain Karawahn mit dem Titel: „Den ganzen Tag vor der Glotze hängen“, auf der die Beine eines Erhängten vor dem Fernseher von der Decke baumeln. Es gab die Bilder von M. C. Escher, irgendwann sogar Krawatten und Strümpfe mit Eschermotiven. Das alles war eine Art bezahlbarer Kleinkunst, „es gab Karten mit Picasso, Dali, Bosch, Matisse - lauter Berühmtheiten, die sonst nur in Museen und teuren Katalogen zu sehen waren“.

Das sprach sich herum, und so wurde der kleine Laden allmählich über Kreuzbergs Grenzen hinaus bekannt. „Die Leute kamen aus der ganzen Stadt, sogar aus dem so genannten Westdeutschland, sie sprachen Bayerisch oder Schwäbisch, dann Englisch und Spanisch.“ Die Bergmannstraße mit ihren Trödlern, der Markthalle und den Kneipen war Ende der Siebziger längst ein international bekanntes Reiseziel. Wer eine Postkarte von Berlin schicken wollte, ging in die Bergmannstraße. Das Geschäft mit den Karten lief gut, unwahrscheinlich gut. So unwahrscheinlich, dass der Vertreter der Firma Moleskine, den Margit auf der Buchmesse ansprach, ihre Bestellung gar nicht erst weiterleitete, weil er dachte, der kleine Laden könne die Edelnotizbücher ohnehin nie bezahlen. Aber Margit Jankowski weiß, was sie will, und irgendwann lagen die ledernen Leerbücher dann trotzdem bei ihr im Laden - lange bevor Moleskine zum lebensnotwendigen Accessoire all jener wurde, die eine Karriere als Schriftsteller anstrebten.

Das Geschäft wuchs, immer mehr seltene und schöne Dinge fanden sich ein, die man nicht überall und nicht in jeder Stadt bekam. Ein zweiter Laden auf der andreren Straßenseite kam hinzu mit Künstlerbedarf, Rahmen, Mappen, Papieren. Margit wusste nicht nur, was sie selbst wollte, sie wusste auch, was ihre Kunden wollten. Und obwohl sie eigentlich keine Buchhändlerin hatte werden wollen, gab es nun auch Bücher in ihrem Sortiment, Bücher über Berlin, also über Transvestiten, Künstler, Punker, die Mauer.

Sie hat immer gewusst, was sie wollte. Sie wollte keine Buchhändlerin und keine Lehrerin werden. Sie wollte in Berlin leben und nicht in Stuttgart. Meistens bekam sie, was sie wollte. Auch als sie Michael das erste Mal sah, wusste sie, was sie wollte. Seit dreißig Jahren sind sie ein Paar. Aber dass sie einmal eine erfolgreiche Geschäftsfrau werden würde, eine leidenschaftliche Kauffrau, dass sie einmal einen fast schon weltberühmten Laden führen würde, das hatte selbst sie nicht gewusst. Im Gegensatz zu ihren ersten Mitstreitern.

„Der Laden vorne gehört Margit“, hatte schon Dr. Dogan gesagt, und als er sich aus dem Geschäft in der Bergmannstraße zurückzog, gehörte er ihr wirklich. Jetzt ist sie Chefin. Kann sich aussuchen, mit wem sie arbeitet. Und es scheint eine gute Wahl gewesen zu sein, die sie traf, „das ist wirklich ein ganz großes Kompliment,“ dass fast alle, die hier irgendwann neben dem Studium angefangen haben zu jobben, nach dem Studium noch geblieben sind. Oder dass sie, so wie sie selbst an diesem „schönsten Tag ihres Lebens“, eines Tages ins Sekretariat gegangen sind und um die Exmatrikulation baten. Um in Ruhe bei Ararat zu arbeiten. Sechs Angestellte arbeiten jetzt in ihrem Laden, viele von ihnen schon über 20 Jahre.

Nur Astrid, eine ihrer ältesten Mitarbeiterinnen, hat es andersherum gemacht. Sie hat jetzt, mit vierzig, angefangen zu studieren. So nebenbei. Kunst natürlich. Was sonst. Sie wird trotzdem bleiben.•


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