Kreuzberger Chronik
Mai 2016 - Ausgabe 179

Essen, Trinken, Rauchen

Die Rebellion des Zimtsterns


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von Saskia Vogel

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Das sei ein Chai Latte. »Das Glas ist eben groß, na und?« Die Kellnerin am Schlesischen Tor fühlt sich angegriffen und blickt Sas herausfordernd an. Noch ein weiteres Wort und wir geraten in Streit! Sas spürt die hilflose Defensive des filigranen Wesens mit den tätowierten Unterarmen, das jetzt hektisch mit Worten klappert, wo es zuvor hektisch mit Geschirr geklappert hat. Lautstark hat das Bedienmädchen die Kuchenhauben auf dem Tresen zurechtgerückt, Bäm!, Bäm!, Bäm!, darunter vegane Zimtsterne, das Stück für 80 Cent.

Auch die Sojamilch im Schäumer hat sie eher geprügelt als zu Schaum geschlagen. Jetzt steht das Kellnermädchen wieder vor ihr, kneift noch einmal herausfordernd die Augen zusammen und zittert dabei ein bisschen mit der Unterlippe. »Das Glas ist eben groß, na und?« Sas sinkt tief in ihren Sessel hinein. Sie hatte lediglich freundlich anmerken wollen, dass der Chai sehr großzügig bemessen sei. Und jetzt so etwas!

Dabei ist »Die Rebellion des Zimtsterns« eher ein pazifistisches Restaurant mit veganen und vegetarischen Speisen - aus Solidarität mit den Tieren. Ein mit Haferkeksen vollgestellter Tresen, ein meterlanger Holztisch, an dem auch ein basisdemokratisches »WG-Plenum« stattfinden könnte. Etwa zur Frage, ob das Alles-Für-Alle-Prinzip zu mehr Kommunismus im Kühlschrank und zu weniger Kapitalismus in der Welt führt? Der Zimtstern erinnert an die Wohnküchen in Kreuzberger Hausprojekten, in denen Sas einst Rote-Beete-Salat mit Körnern aß und von der Rebellion träumte.

Damals nahm sie die Rolle der Abgemagerten ein, getrieben und verstört, die im Kreise der Wollstulpenträger Unterschlupf fand. Liebevoll kochten sie ihr Milchreis mit Zimtsternen und Zucker. Jetzt gibt es diesen Milchreis auch am Schlesischen Tor, mit Kokosmilch, dann ist er vegan. Mit Vollmilch und Pflaumen schmeckt er Sas aber besser. Milchreis kann Schmerzen heilen, und an den Kreuzberger Revoluzzertischen hatte Sas Schmerzen. Je mehr Schmerzen sie hatte, desto näher war sie den Sternen. Die Kellnerin steht noch immer vor ihr. Sie atmet hektisch. »Das Glas ist eben groß, na und?« - »Schon gut, ich habe ja gar nichts kritisiert!« , beschwichtigt Sas das Mädchen. Als ehemals Betroffene weiß sie genau, wie man die hypothalamisch-hypophysyäre Stressachse von Borderlinern wieder beruhigt.

Berlin ist die »Vegane Hauptstadt Europas« , und im Zimtstern, wo man die Linzer Torte mit Marmelade, aber ganz ohne Eizellen, Muttermilch und Tierquälerei essen kann, möchte Sas lieber keine kleinen Kellnerinnen angreifen. »Auch der Salat schmeckt wirklich ganz hervorragend!« , versucht sie zu beschwichtigen, aber das zarte Mädchen hat sich bereits abgewendet. Mit gehetztem Blick sammelt es jetzt Kaffeetassen ein, um sie in die Spüle zu knallen. •


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