Kreuzberger Chronik
Dez. 2016/Jan. 2017 - Ausgabe 185

Strassen, Häuser, Höfe

Die Taborstraße


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von Werner von Westhafen

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Die Taborstraße ist eine Kreuzberger Ausnahmeerscheinung. Denn während die meisten Straßen des vor den alten Toren der Stadt auf dem Reißbrett geplanten Viertels stur und schnurgerade verlaufen und die Wohnviertel in Quadrate teilen, nimmt sich die Taborstraße die Freiheit, vom Heckmannufer des Landwehrkanals in einem sanft geschwungenen Bogen zur Wrangelstraße zu führen. Dort erst fügt sie sich ins übliche Straßenmuster ein und verläuft von nun an parallel zum Kanalufer und zur Cuvrystraße in Richtung Spree bis zur Schlesischen Straße.

An jener Stelle, an der die Wrangelstraße auf die Taborstraße trifft, erhebt sich der Backsteinturm eines imposanten Kirchenbaus. Schon zur Jahrhundertwende hatte die Stadtsynode das große Grundstück am Görlitzer Ufer mit den Nummern 30 und 31 für 168.000 Mark erworben. Zweieinhalb Jahre hatte man an dem 71 Meter hohen Bauwerk mit der scharfen Spitze, dem von Säulen flankierten Kirchenschiff und dem Gemeindehaus gearbeitet und noch einmal knapp 400.000 Mark investiert, damit die Taborgemeinde mit ihren 23.000 Mitgliedern ein stattliches Domizil erhielt.

Als Architekten beauftragte die aufstrebende Gemeinde den Dombaumeister und königlichen Baurat Georg Schwartzkopff, Bruder des Industriellen Louis Schwartzkopff, der im Bezirk Mitte einer Straße und einem U-Bahnhof seinen Namen vermachte. Kaiserin Auguste Viktoria stellte das gewichtige Bauprojekt sogar unter ihre Schirmherrschaft. Alles in allem war das neue Gotteshaus - so wie fast alle kirchlichen Häuser, die in jenen Jahren entstanden - ein Prestigebau, der weltliche Macht demonstrieren sollte. Schon der hebräische Name Tabor, nicht weniger bedeutend als »Mitte und Nabel der Welt«, zeugt nicht von großer Bescheidenheit, auch wenn sich die Kirchenväter bei der Namensgebung auf den gleichnamigen Hügel beriefen, auf dem einst die Verklärung Jesu stattgefunden haben soll.

Es war selbstverständlich, dass auch das Kaiserpaar unter den Anwesenden war, als kurz vor Weihnachten des Jahres 1905 die Kirche mit einem großen Festgottesdienst eingeweiht wurde.

Foto: Dieter Peters


Sieben Jahre später, am 19. Dezember, verschwand zu Ehren des Kirchenbaus dann auch der alte Name des Görlitzer Ufers aus dem Adressbuch, und die Straße erhielt einen christlichen Namen. Nur ein winziger, wenige Häuser langer Streifen am Ufer des Kanals trägt heute noch den alten Namen.

Doch so selbstsicher die junge Berliner Gemeinde in die Zukunft blickte: Der Krieg machte auch vor der Kirche in der Taborstraße nicht halt. Schon im ersten Weltkrieg wurden die friedlichen Orgelpfeifen demontiert, weil man das Zinn zur Munitionsherstellung brauchte. Die drei über vier Tonnen schweren Glocken in den Tonlagen Fis, Cis und E aber, die der Bochumer Verein im Ruhrgebiet gegossen hatte, entgingen dem Schicksal der Einschmelzung auch im zweiten Weltkrieg und klingen bis heute. Lediglich das Dach des Gotteshauses am Ende der Wrangelstraße wurde getroffen. Die Taborkirche hatte einen Schutzengel auf ihrer Seite, der seine schützende Hand über die Gebäude hielt und das Kirchenschiff vor der Zerstörung bewahrte. Die schlanke, alle Dächer überragende Turmspitze allerdings ist gefallen, was heute eher schüchtern in den Himmel zeigt, ist nur noch ein Stummel.

Auch die vier steinernen Evangelisten, die vierzig Jahre lang auf der Empore standen und die Gemeinde unter sich im Blick behielten, sind im Krieg verloren gegangen. Der Turm selbst aber, das Kirchenschiff und das Gemeindehaus blieben unbeschädigt, sogar einige Wandmalereien haben Rauch und Feuer überlebt. Schon am 6. Mai 1945 konnte, nachdem das Dach provisorisch abgedichtet worden war, der erste Nachkriegsgottesdienst stattfinden, und 1958 waren auch auch die letzten kleinen Restaurierungsarbeiten abgeschlossen. Wieder fanden die Protestanten im Wrangelkiez Grund zum Feiern.

In den Sechzigerjahren begann man, die Kirche zu modernisieren, ersetzte den altersschwachen Sandstein, entfernte die Säulen aus schwarzem Serpentin, ebenso den hölzernen Schalldeckel der Kanzel. Die letzte, eher unglückliche Umgestaltung erfuhr das inzwischen 100 Jahre alte Kirchenhaus nach dem Fall der Mauer, als man – um Heizkosten zu sparen – Glaswände einzog. Die alten, von unzähligen Hintern betender Gläubiger blankpolierten Kirchenbänke sind entfernt worden, das ehrwürdige Knarren der hölzernen Sitzreihen ist dem quietschenden Geräusch zeitgemäßer Bestuhlung gewichen. So verschwinden die letzten Spuren der Gründerzeit.

Auch das von Pferdehufen, Kutschenrädern, unzähligen Ledersohlen und Autoreifen auf Hochglanz polierte Straßenpflaster der Taborstraße ist längst unter einer Asphaltdecke begraben. Aber dort unten liegt es noch, unbeschadet, und könnte jederzeit wieder ans Tageslicht geholt werden. Ihren Lauf hat die alte Straße seit Anbeginn nicht mehr geändert, sie schwingt sich noch immer mit Kreuzberger Lässigkeit durch die preußische Ordnung. •

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