Kreuzberger Chronik
Dez. 2016/Jan. 2017 - Ausgabe 185

Literatur

Yorckstraße


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von Ernst Volland

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Yorckstraße

Der Bahnsteig S-Bahnhof Yorckstraße ist leer. Es ist vier Uhr nachmittags, von der S-Bahn sind die Rückleuchten deutlich zu sehen. Der Zug wird kleiner und kleiner. Neue Fahrgäste steigen die steile Treppe von den Yorckbrücken hinauf. Es ist die steilste Treppe im ganzen S-Bahn-Netz und kein Fahrstuhl zur Verfügung. Auf dem hellen Bahnsteig steht ein Kiosk mit zwei Plastikstehtischen, die niemand benutzt. Eine hohe Reklamewand teilt den Bahnsteig in zwei Hälften.

»Ausstellung Rebecca Horn« steht auf einem verglasten A0-Plakat. Es zeigt ein schmales Sprühgerät, das schwarze Farbe in Schlangenlinien auf eine Wandfläche abbildet. Die schwarze Farbe tropft von den breiten Streifen, die willkürlich über das Blatt verteilt sind. Fachleute sprechen über diese Konstruktion von einer Skulptur, einer Plastik oder von einem künstlerischen Objekt.

Das Plakat und das abgebildete Motiv sind nicht sofort zu erkennen, und so haften die Augen auf dem fast leeren Bahnsteig auf dem Plakat, auf den beiden kleinen Trichtern, in denen sich Farbe befindet und auf dem Verbindungsröhrchen, das zum Sprühgerät führt. Was sollen nur die leicht geschwungenen Schleifen bedeuten, die dieses Gerät, wie ein kreisender Rasensprenger gebaut, von sich schleudert? Hinter der Reklamewand ist eine Stimme zu hören. Eine Person auf dem Bahnsteig singt. Sie tritt hinter der Wand hervor und geht ruhig auf und ab, ohne den Gesang zu unterbrechen.

Es ist ein hoher, kehliger Ton, die Worte sind nicht zu verstehen. Der junge farbige und sehr große Mann hat die langen Hosenbeine bis zu den Knien hochgekrempelt, auf dem Rücken trägt er einen Leinenbeutel. Auf dem Kopf zeigen dicke feste Haarsträhnen in einer Länge von etwa zehn Zentimetern in alle Himmelsrichtungen. Der junge Mann hat eine schlanke Gestalt und ein schönes Gesicht. Diese Schönheit entspricht nicht dem mitteleuropäischen Ideal, es ist archaisch, ungestüm und zugleich sanft.

Niemand auf dem Bahnsteig sagt ein Wort, die Sonne steht schon tief, und der junge Mann wandert hin und her, ohne seinen Gesang zu unterbrechen. Die Stimme transportiert die Illusion eines fiktiven ruhigen Platzes der Kontemplation, ähnelt dem Gurren eines seltenen bunten Vogels und lässt für Sekunden die Sehnsucht nach Wildnis und Ferne aufscheinen.

Jetzt fährt auf der Seite des jungen Mannes der Zug ein und seine Stimme verstummt hinter der klackenden Tür.

Zurück bleibt der Blick auf das Plakat. Dort ist immer noch das Sprühgerät zu sehen, das schwarze Schlieren auf eine weiße Wand wirft, ohne jedes Ziel und ohne jede Bedeutung. •

entnommen aus: Ernst Volland, »Stories«, Edition Friedenauer Brücke, 2016 , ISBN 978-39816130-5-6. Preis: 20.

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