Kreuzberger Chronik
April 2016 - Ausgabe 178

Strassen, Häuser, Höfe

DieTunnelhäuser in der Dennewitzstraße


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von Werner von Westhafen

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Noch heute bleiben Kinder, die auf den Spielplätzen vor den neuen Betonplattenbauten am Gleisdreieck Skateboard fahren und den Heimweg über die Dennewitzstraße nehmen, bei dem Haus mit der Nummer 2 verwundert stehen, um die nächste U-Bahn abzuwarten, die hier in einer Hauswand verschwindet.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts wunderten sich nicht nur die Kinder über die Eisenbahn, die Häuserwande durchbrach. Etwas weiter südlich, am Dennewitzplatz, der damals noch ein richtiger Platz mit Kirche, Häusern, Lokalen, Straßenbahn- und Busstationen war, hatte es eines dieser »Tunnelhäuser« zu internationaler Berühmtheit gebracht. Es war das erste seiner Art und wurde zur Metapher des »Tempos von Berlin« und eines schier unaufhaltbaren Fortschritts, dem sich nicht einmal ein vierstöckiges Gebäude in den Weg stellen konnte. Kolorierte Postkarten zeigten die »Fahrt der Hoch-Bahn durch ein Haus in der Bülowstraße«, Feuilletonisten aus aller Welt schrieben von der »Elektropolis« und vom Berliner »Großstadtwunder«.

Foto: Postkarte
Das »Tunnelhaus« zwischen Dennewitzstraße und Bülowstraße war die »Sensation der Strecke«. Kaum ein Berliner Restaurant zog so viele Touristen an wie die »Akademischen Bierhallen« , die sich im Erdgeschoss unter den Geleisen befanden. Auch der Polsterer, der nebenan seine Werkstatt hatte, profitierte vom Bekanntheitsgrad seiner Geschäftsadresse, und sogar den Schneider, dessen Arbeitszimmer im ersten Stock gleich neben den Geleisen lag, soll jeder Berliner Chauffeur gekannt haben, da die Damen es spannend fanden, wenn bei der Anprobe der Boden wackelte.

Die Hochbahngesellschaft hatte damit gerechnet, dass die Dreistheit, mit der die Architekten ihre Linien durch ein bewohntes Haus zeichneten, auf kritische Stimmen stoßen würde. Immerhin mussten gleich zwei Etagen eines vornehmen Mietshauses abgerissen werden, um die Durchfahrt zu ermöglichen, weshalb der Hochbahn-Gesellschaft nichts anderes übrig geblieben war, als das im Wege stehende Objekt zu kaufen und den Mietern der ersten und zweiten Etage zu kündigen. Auch wenn die Zeitungen berichteten, dass die Bahn vollkommen »erschütterungsfrei« durch das Haus gleite, dürfte man im Tunnelhaus nicht sonderlich glücklich gewesen sein über den neuen Nachbarn, der auch spät in der Nacht keine Ruhe gab.

Glücklich war nur der einstige Besitzer der Immobilie, der für den Rest des Lebens ausgesorgt hatte, die Altmieter dagegen klagten wegen der Lärmbelästigungen. Die Verkehrsgesellschaft zeigte sich großzügig und gewährte den Mietern Rabatt. Doch es dauerte nicht lange, da stellten die neuen Besitzer fest, dass es an Nachmietern nicht mangelte, und dass die Berliner es als Ehre empfanden, in einem der berühmtesten Häuser der Stadt zu wohnen. Für Neumieter wurde das Wohnen im Tunnelhaus fortan eine luxuriöse Angelegenheit.

Doch auch Großstadtwunder währen nicht ewig. Nach vielen Jahren friedlicher Koexistenz von Bahn und Mietern wurde das Haus am Dennewitzplatz 1943 in einer Novembernacht durch Bomben zerstört und nicht wieder aufgebaut. 60 Jahre später war das Land unter der Hochbahntrasse eine unkrautüberwucherte Brache, auf der die Ziege eines türkischen Gastarbeiters weidete. Noch einmal wurde das Grundstück zum Symbol einer Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, und wieder richteten sich Objektive auf ein kleines Großstadtwunder. So etwas gab es nur auf der Berliner Insel.

Foto: Dieter Peters
In der Dennewitzstraße Nummer 2 dagegen sind die Mieter noch immer begeistert. »Dass die Tassen im Schrank wackeln und der Tisch wegspringt«, sei »alles gesponnen!«. Als 2008 die BVG streikt, beklagt ein Mieter sogar eine »unangenehme Ruhe«, die ihm den Schlaf raube.

Wahrscheinlich war es der Erfolg des ersten Tunnelhauses gewesen, der die Verkehrsplaner auf die Idee brachte, 1915 beim Bau einer Entlastungsstrecke zwischen Nollendorfplatz und Gleisdreieck ein zweites Tunnelhaus zu konstruieren. Erste Pläne hatten den Abriss des kompletten Gebäudes und eine Schneise zwischen den Hausnummern 1 und 3 vorgesehen. Nun aber verschwanden die Geleise in einem ummauerten Schacht, der durch das Haus mit der Nummer 2 und anschließend durch die Hinterhöfe der Kurfürstenstraße führte, in denen sich Handwerker ansiedelten, die in den unter der Trasse entstehenden Räumen ihre Lager einrichteten. 1924 wurde die Entlastungslinie in Betrieb genommen, wieder war das Interesse der Medien groß. Doch eine so große Berühmtheit wie das Tunnelhaus am Dennewitzplatz erlangte das Haus mit der Nummer 2 leider nie. •


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