Kreuzberger Chronik
April 2016 - Ausgabe 178

Essen, Trinken, Rauchen

Das Wirtshaus Hasenheide


linie

von Horst Unsold

1pixgif
Ein Mann läuft die Hasenheide entlang, von Kreuzberg nach Neukölln. Er ist schon ein ganzes Stück gelaufen, von Schöneberg ist er gekommen, und er verspürt Hunger. Er hat gelesen, dass die Hasenheide einst das Jagdrevier des Kurfürsten war, und er hat Appetit auf Wildschweinbraten. Da sieht er ein Schild auf der anderen Seite der Straße: Wirtshaus Hasenheide.

Es scheint ein altes Wirtshaus zu sein, draußen rostet das eiserne Geländer zwischen wackeligen, nur noch vom Putz zusammengehaltenen Backsteinsäulen. Durch die hohen, runden Fenster fällt Sonnenlicht auf die Tische in der Gaststube, es knarrt ein Holzgeländer, auch die Wände sind mit Holz vertäfelt und in Bordeauxrot gestrichen. Dazwischen glitzern kreisrunde Spiegel - vielleicht noch aus jenen Zeiten, als sich an der Hasenheide ein Tanzsaal an den anderen reihte, und als aus den Rohren, die noch heute unter dem Gewölbe des Gastraums hängen, Gas in die Laternen strömte, die den Tanzsaal erleuchteten.

Der Gastraum ist gewaltig, und obwohl es gerade erst Mittag und ein Mittwoch ist, sind fast alle Tische besetzt. Die Gäste sind echte Kreuzberger, die - abgesehen von vier Handwerkern, die vor vier gewaltig hohen Mittagstellern sitzen - alle gerade erst aufgestanden zu sein scheinen: Frauen, die sich zum Lästern verabredet haben, Pärchen, die sich anschweigen, verkaterte Einzelgänger und Studenten, für die das gewaltige Frühstücksbuffet im Billardraum eine lebensrettende Maßnahme zu sein scheint: Es kostet 4,99. Der Fremde setzt sich an einen freien Tisch, blättert zufriedenen Gesichtes in der Speisekarte, liest von Hirsch und Wildschwein, Rotkraut und Sauerkraut, Bratwürsten und Eisbein: Dieses Wirtshaus ist ein echtes Wirtshaus!

»Kann ich schon zu Mittag essen, oder gibt es nur das Frühstücksbuffet?« Auch der Kellner ist ein echter Kreuzberger, unverstellt, nüchtern, nicht zu freundlich. Der Fremde bestellt Wildschwein mit Rotkraut, aber auf dem Weg zur Toilette kommt er am Buffettisch vorbei und staunt: Es gibt nicht nur Brötchen mit Marmelade und Käse, es gibt alles: Es gibt verschiedenes Gebäck, Käse- und Zupfkuchen, es gibt - wie zuhause- bekleckerte Marmeladengläser und klebriges Nutella, es gibt verschiedene Sorten Müsli, eingelegte Kirschen, Joghurt, Quarkaufstriche, und dann die mediterrane Ecke mit schwarzen und grünen Oliven, gefüllten Weinblättern und Paprikaschoten, getrockneten Tomaten, Salaten und Pasteten, und hinten an der Wand fünf kleine Vitrinen, in denen es Wurst und Käse gibt, Kasslerbraten und Schinken, Rollmops und Lachs, und auf der Flamme Rührei, Hühnernuggets, Champignons, weiße Riesenbohnen in Tomatensauce...

»Wenn ich das mit dem Buffet gewusst hätte!«, murmelt der Fremde, als der Kellner ihm das Wildschwein bringt.

»Aber das macht doch nichts!«, sagt der Kellner. »Dann kommen Sie ganz einfach noch einmal wieder.«


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg