Kreuzberger Chronik
März 2015 - Ausgabe 167

Kreuzberger
Norbert Heuer




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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Die Zeiten, als Berlin noch eine Insel und »Westdeutschland« ein fernes Festland war, als man im Schatten der Mauer noch ein ruhiges Leben führen konnte, sind Vergangenheit. Wo einst die innerdeutsche Grenze das Ende der Welt markierte, kaum Autos fuhren und die Häuser leer standen, sind Wohnungen zur Mangelware geworden. Das Leben in den Straßen ist laut, es wird gekämpft, um Parkplätze, Arbeitsplätze, Sitzplätze und Schlafplätze. Immer ist die Stadt in Eile, sechs Tage lang. Nur sonntagmorgens ist es ruhiger. Da ist kaum jemand auf der Straße.

Norbert Heuer ist auch am Sonntag unterwegs. Er kommt jeden Morgen zum Viktoriapark, sieben Tage in der Woche, seit acht Jahren schon. Er lebt mit der Natur und steht auf, wenn es hell wird, so wie die Tiere im Wald und auf den Steppen. In seinem Arbeitszimmer am Kreuzberg sind sie alle versammelt, blicken ihn von großen Kalenderblättern an der Wand an, die Greife, Leoparden, Füchsen... lauter wilde Tiere. Nur die drei Tiere in dem kleinen Gehege, das Norbert Heuer jeden Morgen aufschließt, sind schon lange zahm. Susi, Emma und Bernie wenden ihre gehörnten Häupter, wenn er sie beim Namen ruft. Es sind Namen von Freunden und Verwandten. »Schließlich hängt man an den Tieren.« So wie an den Menschen. Manchmal sogar noch ein bisschen mehr.

Es ist kalt, Heuer hat den Ofen angefeuert, das Rohr knistert. Er hat das Frühstück auf den Tisch gepackt, den Stuhl herangerückt. Er sitzt gern in diesem Wirtschaftsraum, der nur durch ein Gatter vom Ziegenstall getrennt ist. Es ist, als wehe ein »Duft« aus der Kindheit von dort herüber. Schon damals, wenn er von draußen in die warmen Kuhställe kam, hatte er sich im Stall viel »wohler gefühlt als zuhause auf dem Sofa vorm Fernseher.«

Heuer hat es sich gemütlich gemacht in der Hütte am Tiergehege, er hat eine Blumenvase aufgestellt, Fotografien von Kindern an die Wand und die Trophäe des Rehbocks über die Tür gehängt, den der Vater einst geschossen hat. Das Zimmer ist sein zweites Zuhause. Oder sein erstes. Ihm würde etwas ganz wesentliches fehlen, wenn er nicht herkommen könnte: der Rhythmus. »Ich führe ein sehr ruhiges Leben hier!«, sagt Heuer und zieht die Schirmmütze tiefer ins Gesicht.

Mit der Mütze und dem langen Bart erinnert er an Fidel Castro, »aber das ist nur Zufall.« Was nicht heißen soll, dass er Castro besonders unsympathisch fände. Sein Vater, der Tierarzt, hatte ihm einmal erzählt, wie sie sich die Kolchosen ansehen wollten, Fidel und dieser ganze Tross ostdeutscher Funktionäre. Und wie der fidele Kubaner mit seiner Militärmütze ständig den Kurs änderte und sagte: »Nein, nicht da lang! Ich möchte lieber hier lang fahren…« – und dann bogen sie in irgendwelche Seitenstraßen ab, in denen es keine sozialistischen Vorzeigebetriebe mehr gab, sondern kleine Höfe, in denen »überall immer nur sieben Kühe standen – aus welchem Grund auch immer. Jedenfalls wurde dem Fidel schnell klar: Da muss noch viel gearbeitet werden am Sozialismus.«



Auch der Sohn, der den Vater auf seinen Fahrten zu den Rindern, Schweinen und Pferden der LPG-Bauern begleitete, sah bald ein, dass der Sozialismus renovierungsbedürftig war. Aber im Grunde war die Welt an der Ostseeküste noch in Ordnung. Sie hatten immer ein paar Tiere im Stall, denn der Vater war ein guter Skatspieler, und jedesmal, wenn er beim Skat gewonnen hatte, kam er mit einer Gans unter dem Arm oder einem Schaf an der Leine zurück. »Einmal hatte er eine Ziege gewonnen. Aber die gefiel ihm nicht«, die gab er gleich weiter.

Norbert hätte sie vielleicht behalten. Er liebt Ziegen. Und als der Bezirk eines Tages mitteilte, man könne die Stelle eines Tierpflegers im Viktoriapark nicht länger finanzieren, da arbeitete er eben ohne Bezahlung weiter. Der Lohn für den Vollzeitjob ohne Wochenende und ohne Urlaub war ohnehin eher ein Taschengeld als ein Lohn. »Davon kann keiner leben.« Aber die Ziegen waren ihm eben ans Herz gewachsen. Als Paula starb, hat das gezwickt. Heuer greift sich unversehens an die Brust, als spüre er den Stich noch. »Ich hab den Tierarzt gerufen, aber das dauerte zu lange. Da hab ich sie ins Auto gepackt und bin losgefahren.« Trotzdem starb die Paula.

Heuer erzählt viel von den Ziegen. Von den Menschen erzählt er weniger. Er erzählt von den langen Haaren der Kaschmirziege oder vom Aussterben der Harzziege. Oder von Blacki, Blondie, Mollie und Gockel, den Kaninchen, Meerschweinchen, Hühnern. Von den Tierschützern vom Vogelgnadenhof, die als Retter der Ziegen vom Kreuzberg plötzlich in allen Zeitungen auftauchten, weil sie für das Bezirks-amt einspringen und die Kosten für die Tierhaltung im Viktoriapark übernehmen wollten, erzählt er nicht gerne. Schon nach drei Monaten kündigte der Verein den »nachhaltigen« Vertrag mit dem Bezirksamt wieder. Und schickte den Amtstierarzt in den Viktoriapark, da die Tiere angeblich nicht artgerecht gehalten würden. Der Amtstierarzt könnte darüber gelächelt haben. Aber Heuer lächelte nicht. Heuer ärgerte sich. Zwanzig Jahre ist seine Älteste alt geworden. So viele Jahre schafften nicht einmal die Ziegen auf den Ostsee-Weiden.

Es waren immer die Menschen gewesen, die Unruhe ins Leben brachten. Schon damals, in tiefsten DDR-Zeiten. Obwohl eigentlich alles ganz schön begonnen hatte: Das Meer war nur eine Stunde entfernt mit dem Fahrrad, in den Sommerferien lagen die Mädchen den ganzen Tag in der Sonne, abends gingen sie tanzen. »Mein Vater wollte zwar, dass ich das Abitur mache und Tierarzt werde, aber dazu hatte ich einfach keine Zeit.« Also begann der Sohn eine Ausbildung zum »Zootechniker für Rinderzucht« in Velgast, später arbeitete er am Rostocker Hafen. Er wollte zur See, wollte weiter, aber Norbert war einer gewesen, der sagte, was er dachte, auch über die DDR. Wahrscheinlich hatte man sich bereits Notizen gemacht über den jungen Mann, der für eine Band namens »Sintflut« am Schlagzeug saß. Auf jeden Fall ließen sie ihn nicht mehr auf die Schiffe, die nach Schweden fuhren, er kam
immer nur bis Riga, wo sich kein Kran mehr drehte, weil alle Hafenarbeiter am Saufen waren. Ein paar Mal fuhr er so hin und her, mit Kabeltrommeln und Maschinenteilen hin, mit Stahlknüppeln wieder zurück. Die große weite Welt war es nicht, aber es gab Dollar und West-Mark im Hafen von Rostock, es gab »Apfelsinen und Bananen, jede Menge, wir konnten uns die an die Köppe werfen.«

Doch 1978 hatte das süße Leben ein Ende, mit dreiundzwanzig musste der junge Mann zum Militär, saß im Schützenpanzer, während zuhause schon eine Frau und ein Kind auf den Vater warteten. Sie war fünfzehn gewesen, als sie sich kennenlernten. Sie blieben zusammen, bis sie starb. Es ist noch nicht lange her.

Sie war mit ihm in den Westen gegangen, wo er als Lagerarbeiter und Staplerfahrer Arbeit fand. Später war er Schichtleiter bei, »das hört sich nach viel an, ist aber nix.« 2004 kamen vier Jahre der Arbeitslosigkeit, »aber das machte mir nix aus. Das war die verdiente Pause nach dreißig Jahren Arbeit!« Er reiste mit einem Freund von Flohmarkt zu Flohmarkt, kaufte Bücher und verkaufte Bücher, verbrachte die Abende in einer Kneipe, die Alptraum hieß. Vielleicht hätte er so weiterleben können, ohne viel Arbeit, aber als man dem gelernten Zootechniker eine MAE-Stelle und Ziegen in einem Park anbot, überlegte er nicht lange. »Das war doch genau das Ding, das ich mein Leben lang hatte machen wollen.«

Acht Jahre lang hatte er sich nun um die Tiere gekümmert, Tag für Tag, als letztes Jahr im Herbst plötzlich alles vorbei sein sollte. 100.000 Euro, schrieben die Zeitungen, würde das Gehege den Steuerzahler im Jahr kosten. Heuer lacht, er »weiß genau, was das hier kostet.« Aber je mehr Zeitungen von den Ziegen am Kreuzberg berichteten, um so teurer wurden sie. Am Ende richtete sogar das Fernsehen die Kameras auf Emma, Susi, Bernie und Norbert.

Kürzlich ist der Chef vom Grünflächenamt, der nur ein paar Meter weiter im Park sein Büro hat, erstmals persönlich im Stall vorstellig geworden. Er versicherte dem Tierpfleger, dass er einen ordentlichen Vertrag und eine Anstellung erhalten werde. Es sieht so aus, als hätten Heuer und seine Ziegen gewonnen. Gegen das Bezirksamt, das die Ziegen schon nach Marzahn hatte abtransportieren lassen. Ohne Heuer davon zu informieren. »Wir wollten ihn wenigstens noch eine Nacht lang ruhig schlafen lassen.«

Es sind immer die Menschen gewesen, die Unruhe ins Leben brachten. So lange er allein ist mit den Ziegen, läuft alles nach Plan. Er steht mit der Sonne auf, trinkt Kaffee, geht zu den Tieren, legt drei Scheiben Brot auf den Ofen, den Frühstückstoast für Susi, Emma und Bernie. Er melkt, kehrt den Stall, holt Gemüse, das die Supermärkte für die Ziegen zurücklegen, kocht Kartoffeln, wäscht Karotten. »Eine Kartoffel ist für mich. Das ist mein Mittagessen. Bratkartoffeln mit Ei.« Und zu Mittag legt er sich »ein Stündchen aufs Ohr«. Um vier ist er wieder bei den Tieren. Und so vergehen die Tage. Die Wochen. Die Jahre. Zwei noch, dann könnte er zuhause bleiben. Dann ist er 65. Aber wo ist das dann, Zuhause, wenn die Ziegen nicht da sind? •










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