Kreuzberger Chronik
März 2015 - Ausgabe 167

Geschichten & Geschichte

Einkehr in der Wilhelmstraße


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von Hans W. Korfmann

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Die Wilhelmstraße war ungefähr so breit…«, erinnert sich die Tochter und öffnet die Arme. Höchstens zwei Meter waren in der Mitte frei geräumt, damit die Menschen weiterkamen. Die alte Prachtstraße war ein Trümmerhaufen, die Bomben der Alliierten hatten kaum Häuser verschont. Eines davon gehörte der evangelischen Brüdergemeinde. Es trug die Nummer 7 und lag gleich gegenüber der Kirche, die ebenfalls vollkommen zerstört war. Heute steht dort kein Gotteshaus mehr, sondern das Willy-Brandt-Haus.
Die Tochter war gerade fünf Jahre alt, und sie war eines von drei Kindern, dass die Mutter Lydia an der Hand führte, als der Pfarrer der frommen Gemeinde die arme Frau mit ihrem Bündel die Straße entlangkommen sah: barfuß, schwanger und mit drei kleinen Kindern an der Hand. Sie waren zu Fuß von Bromberg gekommen, eine Woche unterwegs gewesen, jetzt hatten sie das Ziel ihrer Träume erreicht: Berlin, die größte Trümmerstadt der Welt.
»Kommen Sie mal mit!«, sagte der Pfarrer zu Lydia Hoffmann und zeigte der erschöpften Frau im 4. Stock des Hauses – dort, wo die Brüdergemeinde im großen Berliner Zimmer sonntags ihre Gottesdienste abhielt – eine kleine Kammer mit einer Kochstelle, zwei Betten und einem Hocker. Sie lag gleich hinter dem provisorischen Betsaal, und sonntags, wenn sie drüben »Schönster Herr Jesus« sangen, durften die drei Mädchen nur flüstern und mussten still auf dem Bett sitzen. Lydia Hoffmann kannte bald jeder im Haus. Auch beim vom Roten Kreuz, das im Erdgeschoss der Nummer 7 ein Kleiderlager eingerichtet hatte, liebte man die Frau mit den drei kleinen Kindern. Immer wieder, wenn sie zur Pumpe vor dem Haus ging, um Wasser zu holen, rief man: »Frau Hoffmann, kommen Se doch mal schnell, wir haben da was für Sie…«
Auch der Drucker, der neben dem Roten Kreuz seine Werkstatt hatte, war der armen Frau wohl gesonnen. Eines Tages kam er herauf, um die Fenster des Zimmers mit Pappe abzudichten. Als der Drucker das Bild des vermissten Ehemannes sah, murmelte er vor sich hin: »Den hab ick doch irjendwo jesehen…« Dreimal war er da, dreimal stand er vor dem Bild von Paul Hoffmann, und eines Tages sagte er plötzlich: »Das war in Kremmen! Den hab ich in Kremmen gesehen, ganz sicher!«
Tatsächlich machte sich Lydia Hoffmann am Geburtstag ihres Mannes auf den Weg um in Kremmen nach ihrem Mann zu suchen, - zwei Jahre nach dem Krieg. Es wurde die größte Geburtstagsüberraschung im Leben ihres Tischlermeisters. So kam Paul Hoffmann im Frühjahr 1947 in die Wilhelmstraße, wo er augenblicklich damit begann, das Treppengeländ
er auszubessern, Stiegen und Fenster zu reparieren und Möbel aufzuarbeiten. Die Nummer 7 war ein stattliches Haus mit vertäfelten Decken in den vornehmen Räumen, einem gewaltigen Portal in der Mitte, zwei Seiteneingängen und einem Atrium mit vier Kastanien und Wohnungen, die groß genug waren, um Gottesdienste darin abzuhalten. Es gab viel zu tun für den Handwerker, »nur Geld gab es noch keines. Manchmal hatte jemand eine Gans unterm Arm, wenn er zu uns kam.«
Später hat der »Vater dann überall in der Straße die Fenster und die Treppenhäuser gemacht. Es waren ja kaum noch Handwerker da.« Es wurde aufgeräumt und repariert, irgendwann zog so etwas wie Normalität in der Ruine ein, die Familie war glücklich in ihrer Wohnung, die Stimmung im Haus wurde immer besser. Die Töchter rutschten das breite Treppengeländer herunter so wie einst die Schüler der Knabenschule und grüßten freundlich, wenn sie bei der Portiersfrau Lasch mit ihren zwei Söhnen vorüberkamen. Das Pferd und die drei Russen, die man in aller Eile im Hof begraben hatte, wurden wieder ausgebuddelt, die kleinen Gärten, die sich die hungernden Berliner am Belle-Alliance-Platz und auf den Grünstreifen der großen Dämme angelegt hatten, verschwanden. Und im Friseursalon in der Hedemannstraße musste Lydia keine eigenen Briketts mehr mitbringen, wenn sie sich eine Dauerwelle legen lassen wollte. Die Gottesdienste der Herrnhuter Gemeinde fanden wieder in einer Kirche statt, die man aus ein paar Brettern zusammengenagelt hatte, und die Wohnungslosen, die in den vielen Zimmern der Wohnung im vierten Stock untergebracht waren, zogen nach und nach aus, bis der Tischler mit seiner Lydia eines Tages die ganzen 189 Quadratmeter allein zur Verfügung hatte - viel zu viele für sie und die drei Töchter.
Was blieb ihnen übrig, als noch ein paar Kinder in die Welt zu setzen. In der Straße sprach man von der »Hoffmannbande«.
Die Sechzigerjahre waren angebrochen, das Wirtschaftswunder bereits spürbar, am Heiligen Abend standen Bläser mit Posaunen im Hof, und die Polonaise der Familie Hoffmann zog mit ihren acht Kindern inzwischen durch alle Stockwerke, durch die Seitenflügel und das Hinterhaus. Die Kette wurde von Jahr zu Jahr länger, irgendwann kamen die Enkelkinder dazu, und auch die Nachbarn schlossen sich dem polnischen Reigen an, die Helmrichs mit dem Tapetengeschäft aus dem zweiten, die Krügers und der Fotograf aus dem ersten Stock.
Nur die alte Lena mit ihrem Krückstock konnte nicht mehr. »Tante Lena«, die den Hoffmann-Kindern Süßkram und manchmal auch Glasperlen schenkte, wohnte im linken Seitenflügel, im Erdgeschoss, bis ans Ende ihrer Tage in ihrer Küche. Die restlichen Zimmer waren, ebenso wie die Wohnungen der darüber gelegenen Stockwerke, im Krieg zerstört worden.
Erst jetzt, 70 Jahre nach dem Krieg, hat man begonnen, die Ruine wieder zu einer Wohnung umzugestalten.1996 starb Lydia, und kurz darauf zog auch »Opa Poldi«, wie ihn die Enkel nannten, aus der alten Nummer Sieben zu einer seiner Töchter, wo er augenblicklich damit begann, alles zu reparieren, was nicht niet- und nagelfest war - genau wie damals nach dem Krieg. Einige aus der »Hoffmannbande« schauen auf ihren Sonntagsspaziergängen immer wieder beim Haus ihrer Kindheit vorbei, an dem so viele Erinnerungen hängen.•

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