Kreuzberger Chronik
Dez. 2015/Jan. 2016 - Ausgabe 175

Geschichten & Geschichte

Lampen und Silber aus Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Zwei Anekdoten von der Vergänglichkeit des Ruhms

Im Jahr 1927 erschien im Verlag für Jugend und Volk der Titel »Die Luisenstadt, ein Heimatbuch« . Das Buch sollte den Schülerinnen und Schülern im Süden Berlins die Geschichte und Bedeutung ihres Stadtteils näher bringen, und wie in fast allen Heimatbüchern begann auch die Geschichte der Luisenstadt mit dem Schmelzen des Eises in »dem Tal, in dem wir wohnen.« Doch die Autoren hielten sich nicht lange mit der grauen Vorzeit des Berliner Urstromtales auf, um zum Wesentlichen, zur Blütezeit der Gegenwart zu kommen.

Ein besonders langes Kapitel widmete das Heimatbuch den »Stätten der Arbeit« . Nicht die Theater- und Tanzlokale am Stadtrand, die den Berliner Süden bekannt gemacht hatten, nicht die Vergnügungsmeilen am Kreuzberg und an der Hasenheide mit ihren Brauereien und Gartenlokalen, sondern die Produktionsstätten an der Köpenicker- und der Ritterstraße sollten den jungen Berlinern als lohnendes Lebensziel vor Augen stehen. Nicht ohne den Stolz und den Enthusiasmus der Gründerzeit beschreibt der Autor die »Männer der Luisenstadt (…), die ihre ganze Schaffenskraft in den Dienst der gewerblichen Entwicklung stellten« . Über mehrere Seiten wird die Köpenicker Straße beschrieben, an der sich Ende des 17. Jahrhunderts hugenottische Flüchtlinge, Schweizer, Waldenser und Wallonen niedergelassen und Handwerksbetriebe gegründet hatten. 100 Jahre nach ihrer Ankunft im späteren Kreuzberg war aus der einst nur von verstreuten Bauern bewohnten Gegend ein Stadtteil mit 590 Häusern und 13.220 Einwohnern geworden, der 1802 den Namen Luisenstadt erhielt.

120 Jahre später arbeiten allein 53.619 Luisenstädter in Betrieben, die mehr als 50 Angestellte und Arbeiter haben. Lange müssen sich die Schüler über die dicht bedruckten Seiten des Lehrbuches gebeugt haben, um die unzähligen Namen und Standorte all jener Firmen auswendig zu lernen, die dort aufgelistet sind. Einige Namen sind heute noch geläufig, denn nach dem Industriellen Heckmann wurde das »Heckmannufer« benannt, die Firma Dannenberger ging mit ihrer Walzendruckmaschine in die Geschichtsbücher ein, und auch die Firma Siemens begann einst in einem lichtscheuen Kreuzberger Hinterhof.

Doch nicht immer hielt der Ruhm bis heute an, die meisten Unternehmernamen aus der alten Luisenstadt sind vergessen. Die Firma Hoppe aus der Köpenicker Straße zum Beispiel, die einst das Riesenfernrohr für die Treptower Sternwarte baute, kennt niemand mehr. Auch die Firma Bohne aus der Prinzenstraße, die das Aneroidbarometer erfand und »damit Weltfruf erwarb« , ist längst vergessen.

Auch weiß heute kaum jemand mehr, dass das sprichwörtliche Tafelsilber eine Erfindung aus Kreuzberg ist. Es war die Firma Henniger & Co in der Alten Jakobstraße 106, die sich 1823 an einem Preisausschreiben des »Vereins zur Förderung des Gewerbefleißes« beteiligte. Seit Jahrhunderten versuchten Alchemisten vergeblich, aus einer Verschmelzung verschiedener Metalle künstliches Gold herzustellen. Beim Silber aber glaubte man sich kurz vor dem Ziel, und die Aufgabe des Preisausschreibens bestand in der Herstellung einer neuen Legierung, die wie das 750er Silber aussehen, darüber hinaus aber auch zum Speisen gut verwendbar sein sollte. Fast hätte Dr. Geitner in Auerhammer mit einer neuen Legierung namens Argentan, einem schon silberähnlichen Gebräu aus Kupfer, Nickel und Zink, den Preis gewonnen, doch am Ende gingen die Gebrüder Henniger aus der Alten Jakobstraße als Sieger hervor und als die »Erfinder des Neusilbers« in das kleine Heimatbuch ein.

In die deutschen Geschichtsbücher kamen die Kreuzberger Brüder nicht. Dort stehen jene, die mit dem künstlichen Silber auch finanziell erfolgreich waren. Der geschäftstüchtige Werner von Siemens, »damals noch ein junger Offizier, setzte sich mit Henniger in Verbindung« und richtete in dessen Fabrik eine »galvanische Anlage zur Vergoldung und Versilberung« ein. Vierzehn Jahre später kam ein anderer Großkapitalist, der Stahlproduzent Alfred Krupp, und meldete in der Gitschiner Straße das Patent für eine gusseiserne Löffelwalze an, mit der das Kreuzberger Tafelsilber in Massenproduktion gehen konnte.

Heute heißt das neue Silber Alpaka. Es wird bei der Herstellung von Musikinstrumenten, Besteck und Lampen verwendet und findet sich in Reißverschlüssen, Modeschmuck und Brillengestellen, in Modelleisenbahnen und elektronischen Geräten. In der DDR prägte man sogar Gedenkmünzen mit der Kreuzberger Erfindung.

Auch die kleine Firma Wild & Wessel ist heute längst vergessen. Dabei war es diese Firma aus Prinzenstraße 26/27, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Lampenindustrie revolutionierte. Nach der Entdeckung und Erschließung »unerschöpflicher Petroleumquellen Pennsylvaniens« in Amerika machten sich die Ingenieure der Luisenstadt sofort daran, einen so genannten »Rundbrenner« zu konstruieren, der in der Lage war, über einen breiten, verstellbaren Docht Petroleum aus einem kleinen Tank zu ziehen und damit in einem Lampenglas eine stille und helle Flamme zu produzieren. Mittels eines kleinen Rädchens, das den Docht hinauf- oder hinunterschob, konnte die Größe der Flamme reguliert werden.

Die Kreuzberger Erfindung erlangte schnell Weltruhm. Innerhalb weniger Jahre erleuchteten die Petroleumlampen mit dem Rundbrenner auch die entferntesten und dunkelsten Regionen der Erde. Es gibt kaum einen Film aus den Zwanzigerjahren, in dem nicht eine schöne, blonde Schauspielerin in der Nacht die Lampe auf dem Nachttisch herunterdreht und sich mit einem lauten Seufzer ins Kissen zurücklehnt. Und bis heute gibt es kaum einen Schrebergarten, kaum eine stromlose Hütte, keinen von den Strommasten weiter entfernten Ort auf der Welt, an dem nicht die kleinen Petroleumlampen mit ihren zuverlässigen, fast ewigen Flammen leuchten würden.

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