Kreuzberger Chronik
Mai 2014 - Ausgabe 158

Geschichten & Geschichte

Von Kreuzberg nach Paris


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von Werner von Westhafen

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Foto: Archiv AGB
Als Arthur Brehmer im September 1898 in der Kochstraße auftauchte, um den Posten des ersten Chefredakteurs der Berliner Morgenpost zu übernehmen, veränderte sich die Zeitungslandschaft. Der von den Berlinern angeheuerte Redakteur brachte ziemlich eigene Ideen von Journalismus mit: Er wollte unterhalten, nicht informieren, und schien dem Wiener »Schmäh« eher verpflichtet zu sein als der Wahrheit. Sein lukratives Motto lautete: »Interessant sein ist alles.« - Eine Devise, die der Axel Springer Konzern bis heute gnadenlos beherzigt.

Da die Berliner, ähnlich wie die Wiener, sich selbst am interessanten fanden, machte Brehmer die Stadt selbst mit ihren Bewohnern zum wichtigsten Thema und schrieb am 20. September 1898 auf die Titelseite der Erstausgabe »Berliner Morgenpost – Neues Berliner Lokalblatt«. Die Kolumnen trugen jetzt Titel wie »Berliner Allerlei« oder »Aus den Vororten« und dienten allesamt dazu, das Gefühl der lokalpatriotischen Leserschaft zu stärken. Mit der Morgenpost konnte der Berliner endlich stolz darauf sein, ein Berliner zu sein.

Doch nicht nur der Inhalt, auch der Stil der Berliner Zeitungen änderte sich mit der Ankunft des Österreichers. Brehmer befreite das Feuilleton von seinem maginalen Nieschendasein. Was einst »Unterm Strich« und in schmalen Spalten am wenig beachteten Blattrand gestanden hatte, rückte plötzlich in den Mittelpunkt. Sogar im Finanzteil gab es unter dem Titel: »Blätter und Blüthen vom Giftbaum« nun Glossen über die zwielichtigen Randfiguren des Finanzmarktes.

Besonders erfolgreich war eine Serie »Über das dunkle Berlin« mit Milieureportagen, in denen es um Animierkneipen, Pfandleihen, Obdachlosenquartiere und Verbrechertreffpunkte ging. Orte, die jeder in Berlin kannte, zu denen aber nicht jedermann Zutritt fand. Brehmer, der viele dieser Reportagen vom Rand der Gesellschaft selbst schrieb, hatte Zugang. Brehmer war Wiener und ein Boheme, er saß mit seinen Mitarbeitern und mit Stift und Papier in Kaffeehäusern und Kneipen, »wo er alle möglichen, zum Teil recht abenteuerlich aussehende junge Leute, in stundenlangem Gespräch um seinen Tisch versammelte.«

Seinen Chef, den Verleger Hermann Ullstein, amüsierte und ärgerte der Wiener Chefredakteur gleichermaßen. Der Österreicher mit der Löwenmähne war so gut nie im Büro und betrat mit seinen Manuskripten den Verlag in der Kochstraße meist erst spät nachts, wenn die Setzer bereits Überstunden machten. »Daß dabei Tag für Tag eine Zeitung herauskommt, ist mir ein Wunder«, staunte der Herausgeber. Doch was Brehmer anpackte, gelang. Auch wenn es manchmal dauerte. 1910 etwa ließ er prominente Autoren und Denker darüber nachdenken, wie »Die Welt in 100 Jahren« aussehen könnte. 2010, mit einer Verspätung von hundert Jahren, wurde das Buch zum Verkaufsschlager. Brehmers Ideenfundus war voll, sein Konto dagegen ständig leer. Eines Tages fragte er Ullstein, ob er nicht seinen Roman drucken wolle. Brehmer hatte zwar noch keine Zeile geschrieben, aber »einen großartigen Titel. Für den allein müsste ich einen anständigen Vorschuss bekommen.« Ullstein lächelte und sprach: »Mein lieber Herr Brehmer, wäre damit nicht ein gewisses Risiko verbunden. Nehmen wir mal an, sie werden krank...« Brehmer schüttelte den Kopf über so viel »Kleinmut«, doch schon tags darauf hatte er eine neue Idee: »Ich werde eine Hochzeitsreise machen.« Von Berlin nach Paris. In einem Automobil. Der Verleger war abermals skeptisch und murmelte: »Aber Brehmer, du bist doch schon seit zehn Jahren verheiratet!«

Dennoch erhielt Brehmer Starterlaubnis, und am Tag der Abreise »waren die Straßen um das Verlagsgebäude schwarz von Menschen. Nicht weniger als 10.000 Schaulustige« waren in die Kochstraße gekommen, um den mit Girlanden geschmückten Sportwagen zu bestaunen. Brehmer ließ auf sich warten, die Menge rief: »Brehmer her, Brehmer her!« - bis er endlich auftauchte, die Löwenmähne sportlich kurz geschnitten. Er wählte aus der Menge eine ältliche Dame mit Hut und präsentierte sie als seine Braut. Die Menge jubelte, als er, von 20 Automobilen eskortiert, Kreuzberg Richtung Paris verließ.

Der erste Reisebericht handelte von der gefährlichen Besteigung des Brocken, der zweite vom noch gefährlicheren Abstieg. Nur sehr langsam näherte er sich der französichen Hauptstadt, und während er die Berliner mit den spannenden Abenteuern seiner Hochzeitsreise unterhielt, verbreitete sich in der Hauptstadt allmählich das Gerücht, der ehemalige Chefredakteur werde Paris nie erreichen. Er habe schon bei Kilometer 15 in einem Hotel bei Potsdam Quartier bezogen, um in einem kleinen Gastzimmer seine kleinen Reiseberichte zu verfassen. Nur Brehmers Sekretär wusste, was tatsächlich geschah: Er war der einzige, der die Briefe und die Briefmarken je zu sehen bekam.

»Es gibt im ganzen Land keinen originelleren Kopf!«, hatte der alte Leopold Ullstein zu seinen skeptischen Söhnen gesagt, als er Brehmer engagierte. Aber die Skepsis der Söhne war nicht ganz unangebracht. »Man wusste nie, was er als nächstes tat!« Und obwohl Brehmers Mopo noch im ersten Jahr «160.000 Abonnenten gewann, obwohl Brehmer dem Blatt viele Jahre lang seine Handschrift lieh, musste er am Ende den Hut nehmen. Der exzentrische Redakteur hatte zu viele gegen sich aufgebracht: Die Setzer beschwerten sich über die Nachtschichten, die Opfer seiner humoristischen Falschnachrichten zogen vor Gericht, und die Autoren beklagten, dass der umtriebige Boheme ihre Beiträge weder las noch druckte. »Der Mangel an Disziplin« brachte das Genie zu Fall, schreibt Herrmann Ullstein Anfang der Vierzigerjahre in seinen Memoiren. »Brehmer musste gehen. Er kehrte nach Wien zurück, es war ein trauriger Tag.« Denn kaum war der Wiener in Wien, traf in Berlin die Nachricht vom plötzlichen Tod des »Journalisten und Schriftstellers« ein.

»Am nächsten Tag veröffentlichten wir in der Morgenpost einen ausführlichen Nekrolog, voll des Lobes auf seine Verdienste. Viele Zeitungen folgten unserem Beispiel, alle Welt war in Trauer.« Dann traf ein Brief von ihm in der Redaktion ein: »Habe nur wissen wollen, was die Leute von mir denken. Ich lebe noch – Mit bestem Gruß, Arthur Brehmer.« Doch was Brehmer anpackte, gelang: Zwei Wochen später war er tatsächlich tot. •

Literaturnachweis: Hermann Ullstein, Das Haus Ullstein, Ullstein Verlag, 2013,


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