Kreuzberger Chronik
Juni 2013 - Ausgabe 148

Reportagen, Gespräche, Interviews

Der neue Markt am Südstern


linie

von Michael Unfried

1pixgif
Der Wochenmarkt am Maybachufer heißt jetzt BIOriental-Markt, der Stoffmarkt nennt sich Designmarkt, und der Flohmarkt Flowmarkt. Jetzt gibt es auch am Südstern einen neuen Markt.

Till ist ein alter Berliner. Er ist »in der Bergmann uffjewachsen.« Drum heißt er auch nicht einfach Till oder Till Meier, sondern eben Kartoffel-Till. So wie andere Alt-Kreuzberger eben Klavierhelmut, Gartenthomas oder Schrauberklaus heißen, je nach der Art ihrer Begabung.

Der Kartoffel-Till handelt also mit Kartoffeln. »Ach, schau mal, die Linda!«, ruft ein Rentner so begeistert, dass alle Umstehenden glauben, er hätte soeben eine alte Geliebte, und nicht eine unansehnliche Kartoffelknolle wiederentdeckt. Linda ist die prominenteste unter den Erdäpfeln, und Till weiß alles über Linda, deren Anbau lange verboten war. »Alle 25 Jahre muss eine Kartoffelsorte nämlich vom Markt genommen werden, damit auch Nachfolgesorten eine Chance haben. Das ist ein uraltes Gesetz.« Aber bei der Linda gab es eben lautstarken Protest. „Die Linda war so beliebt unter den Kartoffelessern und den Kartoffelbauern, dass sie wieder zugelassen werden musste.«, sagt der Till. Die Linda ist eine runde Sache, ein Allrounder, ein Multitalent. »Eigentlich ne feste, aber die können Sie praktisch für alles benutzen«, sagt der Till. Ebenso wie die Hela. Das ist auch so eine Sorte, die demnächst vom Markt verschwinden könnte, wenn die Leute nicht Einspruch erheben.
Foto: Cornelia Schmidt


Der Rentner jedenfalls ist so begeistert von seiner Linda, dass er gleich noch »ein paar druff« will. »Sie können auch nen ganzen Sack haben«, sagt der Kartoffel-Till, »und ich trag Ihnen den auch gern noch bis nach Haus, wenns nicht zu weit weg ist.« Das ist dem Rentner dann doch »zu ville«, und der Kartoffel-Till sagt: »Dann bin ick mit 4,50 zufrieden.« Reich wird der Till wahrscheinlich nicht mit den Kartoffeln, aber verhungern tut er »ooch nich«. Obwohl das ein Problem ist mit den unbehandelten Kartoffeln vom Büffelhof, die er hier verkauft. Nach drei Tagen fangen die an zu treiben. »Das ist eben der Nachteil bei meenen Kartoffeln, dass die Leute alle irgendwann selbst ernten und nix mehr koofen bei mir.«

Till ist der einzige auf dem Markt, der sich noch an den alten Wochenmarkt vom Südstern erinnert, »bis vor 25 Jahren vielleicht.« Dann kam die Zeit der großen Ruhe. Es wurde still auf dem Niemandsland zwischen den Touristenmeilen des Bergmann- und des Graefekiezes. Doch seit Oktober werden unter dem Kirchturm wieder Kartoffeln, Obst und Gemüse, Käse, Fleisch und Fisch verkauft. Nikolaus Fink, ein Bauernsohn vom Bodensee, der schon früher sein Auto mit den Produkten der dörflichen Nachbarschaft belud und zum Markt fuhr, kennt sich aus mit dem Geschäft. 2002 hat er am Arkonaplatz seinen ersten Markt organisiert, andere folgten. Es war eine Kellnerin aus einem Café in der Körtestraße, die sich in ein Gespräch der Marktstandhändler einmischte und fragte: »Warum macht Ihr eigentlich keinen Markt am Südstern?«
Foto: Cornelia Schmidt
Foto: Cornelia Schmidt


»Kreuzberg wird doch total vermarktet«, sagt eine junge Frau am Käsestand zu ihrem Mann, der sich aber nur für den Rohmilchkäse interessiert. Aber die Frau hat nicht Unrecht. Allein am Maybachufer gibt es inzwischen vier verschiedene Märkte, das Geschäft floriert.
Foto: Cornelia Schmidt
Auch die Freiwilligenagentur des Nachbarschaftsheims Urbanstraße, das für Fink kostenlose Marktforschung betrieb,
Foto: Cornelia Schmidt
kam zu dem Schluss, dass die Kreuzberger einen Markt am Südstern begrüßen würden, solange dort Lebensmittel und kein Schnickschnack für Touristen verkauft wird. 45 Prozent des Lebensmittelhandels, sagt Fink, werden von großen Discountern abgewickelt, und nur etwa 3 Prozent der Lebensmittel werden auf Wochenmärkten verkauft. »Aber die kleinen Märkte haben Zukunft!«

Deshalb mietete Fink am Südstern Platz für 35 Marktstände. Natürlich durfte der Kartoffel-Till nicht fehlen, ebensowenig wie der türkische Feinkostwagen mit seinen gefüllten Weinblättern, dem Schafkäse und den Oliven und der »osmanischen Pasta«. Oder der Milchschafhof aus dem Umland, oder der Käsestand mit dem französischen Flair. Der Salamimann oder der sympathische Holländer, der schon am Maybachufer zentnerweise Lakritze verkaufte. Menno Rijst hat auf wenigen Quadratmetern alles versammelt, was schwarz, klebrig und irgendwie eklig ist: Die »Süchtigen« kommen jede Woche und kaufen gleich ein ganzes Kilo vom geraspelten Süßholz. Nicht nur Klassiker wie Schnecken, Pfeifen oder Katzenpfötchen, sie probieren alles, sind ständig auf der Suche nach etwas Neuem, kosten Black Metal, Jungle-Schrei, Heringe und Hexenheuler. Die Lakritzliebhaber sind keineswegs jene Fünfzigjährigen, die in der Kindheit ihre Lakritzschnecken noch an jedem Kiosk, in jedem Schwimmbad und auf jedem Jahrmarkt fanden. Die jüngsten Lakritzesser »haben gerade Laufen gelernt, und die ältesten können es kaum noch!«

Auf Wochenmärkten gab es die Lakritze früher noch nicht. Auch sonst ist nicht alles am Südstern lebensnotwendig. Aber vier oder fünf Stände mit »Non-Food-Produkten« kann der Markt durchaus auch verkraften, »ohne gleich zur Tourimeile zu werden«. Der »Knospenkontor« und die Makrönchenmanufaktur, die Seifenhändlerin und der kleine Wagen mit Textilien haben nichts zu tun mit den »bunten Märkten« aus den Fremdenführern von Prenzlauer Berg oder Schöneberg, wo die Kunsthandwerker die Gemüsehändler längst verdrängt haben.

Der Markt am Südstern soll ein Wochenmarkt bleiben, hier soll eingekauft und angestanden, statt in der Sonne gesessen werden. Stühle und Bänke gibt es auch nur bei der mobilen Espresso-Bar Melusine und am anderen Ende des Marktes. Statt der üblichen Crepes-Verkäufer, der Waffel- oder Falafelbude vom Winterfeldtmarkt gibt es am Südstern »Die dollen Knollen« aus dem silbernen Verkaufswagen der »neuen Ess-Klasse«. Durchs Fenster des legendären Citroen HY, legendärer Jahrgang 1968, werden frische Kartoffelpuffer gereicht, mit Apfelmus, Zucker und Zimt oder Kräuterquark.

Auch bei der Fischräucherei gibt es keinen Tisch. Da stehen zwei Mädchen, so klein, dass sie kaum über die Ladentheke gucken können, vor sich auf dem Ölpapier eine frisch geräucherte Forelle, die sie unter Aufbringung aller zur Verfügung stehenden Konzentration bis auf Haut und Gräte verspeisen. Jeden Samstag, »seit sie das erste mal probiert haben.«
Foto: Cornelia Schmidt



Foto: Cornelia Schmidt













»Wer hier mal Fisch gegessen hat, der kommt wieder!«, sagt Thomas, der für den alten Gehricke auf den Märkten räuchert. Forelle und Saibling kommen aus dem eigenen Teich, die Makrele, der Aal und der Rotbarsch tummelten sich erst bunt schillernd in der Ost- und Nordsee, bevor sie in den 80 Grad heißen Rauchfang gehängt und dunkelbraun geräuchert wurden. »Wir haben eigentlich nur Stammkundschaft«, sagt Thomas. Seit 18 Jahren schon räuchert der Fischhändler seinen Fisch am Wittenbergplatz, seit 14 Jahren steht er im Wedding am Leopoldplatz. Und in der Thusnelda-Allee in Moabit steht er auch, »der kleinsten Allee mit dem längsten Namen und der höchsten Kirchturmspitze – wie die Berliner Taxifahrer sagen.« In Moabit ist die Kundschaft etwa »siebzig-plus«, lauter Rentner, die sich ihre Makrele und manchmal eine Forelle oder ein Stück Steinbutt holen. »Hier am Südstern, da isses son bisschen wie in Prenzlauer Berg: Lauter Leute um die Vierzig mit zwei Kindern an der Hand. Auch ganz nett...« Aber im Grunde ist es ihm egal, wer hier anbeißt. Denn »wer einmal hier kauft, der kauft immer wieder!«

»Das ist doch bei uns genauso!«, ruft Symeyye vom Gemüsestand herüber. »Wer bei uns ein Radieschen gekauft hat, der kommt wieder.«

Dann fordert die junge Frau ihren Bruder auf, endlich mal die Radieschen umzudrehen, die man kaum sehen kann unter dem vielen grünen Blattwerk. Sümeyye und Erkut sind wochentags auf den Märkten in Lichterfelde und am Adenauerplatz, aber samstags sind sie unter der Kirche am Südstern.
Foto: Christian Fessel
Das Gemüse sieht so aus, als gesunde jeder Kranke augenblicklich nach dem Verzehr. Ihr Obst duftet so frisch, als sei es gerade vom Baum gefallen. Symeyye und Erkut reichen immer eine Kostprobe herüber, wenn ein Obstkäufer dem prallen Rot der Erdbeere nicht traut. Und sie kommen ganz ohne das übliche orientalische Marktgeschrei aus. Dafür haben sie immer einen trockenen Berliner Witz auf der Zunge.

Ganz so wie der bärtige Nachbar mit den qualmenden Fischen. »Der kommt nicht mal in die hässlichste Disko rein, der kommt an keinem Türsteher vorbei, so unrasiert, und stinkt immer nach Fisch«, meint Sümeyye.
Foto: Cornelia Schmidt


Deshalb fährt Thomas jetzt erstmal in die Türkei. Zwei Wochen. Damit er nicht mehr so riecht. »Es macht Spaß hier«, sagt Thomas. »Wenn einer kommt und fragt, was er als Beilage zum Räucheraal essen soll, dann sag ich natürlich: Spargel. Gleich da drüben. Frisch aus Beelitz...« – und deutet hinüber zu Sümeyye und Erkut, die da stehen und breit grinsen. •






zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg